1 Jahr Krieg in der Ukraine - die Sicht eines ehemaligen Militärattachés in Moskau

1 Jahr Krieg in der Ukraine - die Sicht eines ehemaligen Militärattachés in Moskau

Russlands Krieg gegen die Ukraine – Gründe und Perspektiven

In der Nacht des 24. Februar 2022 greifen Truppen der Russischen Föderation (Russland) die Ukraine an. In den Tagen und Wochen vor dem Angriff hatte es massive Bereitstellungen von Truppen an der nördlichen und östlichen Grenze zur Ukraine gegeben.  Aussagen des Präsidenten Wladimir Putin, das seien nur Manöver, waren zur Lüge geworden. In Europa begann Putins Krieg.   

In den für jedermann zugänglichen Informationsveranstaltungen der GSP ist der völkerrechtswidrige Überfall Russland auf den „Bruderstaat“ seither ständiges Gesprächs- und Diskussionsthema. Die Sektion Bad Neuenahr-Ahrweiler hatte einen sachkundigen Referenten zur Vortragsveranstaltung „Ein Jahr russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine - Was waren die Gründe, welche Perspektiven gibt es?“ eingeladen. Dipl.-Ing. M. Sc. Reiner Schwalb, Brigadegeneral a.D., war von 2011 bis 2018 Verteidigungsattaché an der Botschaft in Moskau. Im Buch „Zeitenwende - Putins Krieg und die Folgen“ des ehemaligen deutschen Botschafters in Moskau Rüdiger von Fritsch (2014 – 2019) dankt dieser Schwalb „für fachliche Expertise“.

Sektionsleiter Dipl.-Ing. Josef Schmidhofer begrüßte rund 80 Teilnehmer im Saal, darunter Mitglieder des Blauen Bund und der örtlichen Kameradschaft der Reservisten und 50 live zugeschaltete Zuschauer am Abend des 14. Februar 2023.

Um was geht es eigentlich beim Krieg Russlands gegen die Ukraine? Ist es russischer Revisionismus und Neoimperialismus, also will Putin die alte Sowjetunion wieder herstellen oder ist es eine wahrgenommene Bedrohung durch die NATO? Putin hat die Geschichte umgeschrieben. „Wer die Geschichte beherrscht, beherrscht auch die Vergangenheit, und wer die Vergangenheit beherrscht, der wird auch in Zukunft herrschen“, das hatte schon George Orwell in „1984“ festgestellt. Geschichtsrevisionismus gab es auch schon unter Leonid Breschnew. Es wurde etwas identitätsstiftendes gesucht, dafür bot sich erstens der „Große Vaterländische Krieg“ an und zweitens wurde 1967 patriotische Erziehung eingeführt. Die Geschichtsumschreibung richtet sich nach innen.  Beide Elemente hat Putin als Jugendlicher erlebt. Gewissen Narrativen widerspricht der Referent. Schwalb sucht nach Grundlagen für den Krieg. In Putins Münchner Rede 2007 ging es nach Ansicht um die Sicherheitsarchitektur Europas. Die NATO-Osterweiterung wurde in Gesprächen „mir immer wieder vorgeworfen“. 

Für Russland verlief sie von West nach Ost und diente dem Ausbau der NATO, dem Heranrücken militärischer Infrastruktur und der Stationierung von Truppen an seiner Westgrenze.  Erklärtes Ziel Russlands war es, dass die Länder zwischen dem Westen und Russland kein NATO-Mitglied werden sollten. Nach einleitenden Ausführungen ging der Referent auf den bisherigen Kriegsverlauf ein. Politisch hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und die Lage falsch beurteilt. Ebenso wurde die Leistungsfähigkeit der eigenen Streitkräfte überschätzt. Der Angriff in einer Jahreszeit, in der das Gelände nur auf Straßen befahren werden kann, war taktisch falsch. Inzwischen hat sich die Zielführung geändert. „Es geht um unsere Menschen im Donbass“ erklärte Putin am 9. Mai letzten Jahres. Der Informationskrieg wird von beiden Seiten geführt. Hier ist die Ukraine aber deutlich geschickter. „Der ukrainische Präsident leistet eine tollte Arbeit, er hat die Informationsdominanz, es gibt kaum jemand bei uns, der sich nicht mit dem Leid der Ukraine identifiziert“, erklärt Schwalb.

Es folgen einige Bemerkungen zur konventionellen Kriegsführung der russischen Streitkräfte.  Gesehen wurden Artilleriegefechte, Orts- und Häuserkampf, vom Gefecht der verbundenen Waffen ist nichts zu sehen, kein koordinierter Einsatz von Luftstreitkräften, auf Drohnen wird mehr zurückgegriffen. Die konventionelle Kriegführung erinnert an die des Zweiten Weltkrieges, nicht an ein modernes Gefecht. Im Oktober begannen verstärkt massive Angriffe auf die zivile Infrastruktur, die der Ukraine schwer zu schaffen machen. Die Bevölkerung soll demoralisiert werden. Absicht für die Oblaste Luhansk und Donezk ist wohl diese zu halten, um eine gute Ausgangsposition zu haben, falls es in einer Pattsituation zu Verhandlungen komm würde. Russland hat die Gebiete ja als sogenannte „Volksrepubliken“ anerkannt.

Anschließend befasst sich der Referent mit der Frage, wie eigentlich die russische Bevölkerung zum Krieg steht. Noch hält sie zum Präsidenten, weil es ihr wirtschaftlich relativ gut geht. Auf die Wirkungen der Sanktionen der EU und anderer Staaten ging der Referent nicht ein. Die seit Jahren auf die Bevölkerung einwirkende Propaganda ist ja nicht neu, die gab es schon zur Sowjetzeit. Alles Böse und Schlechte kommt aus dem Westen oder von den Amerikanern.

Was sind die Ziele und die Strategie der Ukrainer. Momentan ist es die Befreiung der gesamten Ukraine, dass betont Wolodymyr Selensky.  Eine ungeklärte Frage ist die nach den Entscheidungsprozessen in Russland. Hier sind die Meinungen kontrovers. Einige Analysten meinen Putin entscheidet alleine, andere hingegen, dass dies nicht er Fall ist. Wäre das so, kann man eher von rationalen Entscheidungen ausgehen, umgekehrt könnten die Entscheidungen eher irrational sein. Das hieße, die Beendigung des Krieges wäre schwieriger. Schwalb meint: „Es sollte beides bedacht werden“.

Nachfolgend streift er die russische Militärstrategie. Hier heißt es klar, wenn politische Ziele nicht erreicht werden, kann auch Militär eingesetzt werden. Seine Gesprächspartner haben ihm klar gesagt, dass die Großmächte das immer so machen, ob NATO oder auch Amerika. Als Beleg folgen dann der Hinweis auf den Kosovokrieg, Irak oder Libyen. Letztlich geht es um die Bedeutung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, wie Russland sie sieht. Einige Anmerkungen zur Nuklearstrategie „über die man nicht so gerne redet“. Die Aussagen der russischen Führung sollten ernst genommen werden. „Sicher werden mir hier Experten widersprechen“, so Schwalb.

Es gibt auch in Russland Stimmen gegen den Krieg. Allerdings sind diese nicht so stark, dass sie zu einer Volksbewegung führen würden. Die Oppositionellen der Zivilgesellschaft sind weggesperrt und die Repressionen wurden allgemein verschärft. Unheilig ist auch die Allianz zwischen Staat und Kirche, die den Machtapparat unterstützt.  Von der im Januar 2023 angestoßene Militärreform wird nicht viel zu erwarten sein. Die Führungs- und Ausbildungsdefizite werden bleiben. Die Absicht ein Unteroffizierkorps aufzubauen gelang nicht und jetzt ist es erst recht nicht möglich. Beim Materialnachschub und Ersatz wird es nicht viel anders aussehen. Die Verlängerung der einjährigen Wehrpflicht ist unbeliebt und wohl kaum durchzusetzen. Wobei Wehrpflichtige, mit Ausnahmen, mit im Kampf an der Front eingesetzt werden. Russland hat etwa eine Million Soldaten, davon sind ca. 320.000 beim Heer/Bodentruppen, wovon 100.000 gefallen sein sollen. Es folgen einige Anmerkungen des Referenten zur Kriegswirtschaft am Beispiel der Panzerproduktion. Es wir davon ausgegangen, dass schon mehr als die Hälfte, ca. 1600 Kampfpanzer, verloren gegangen sind.

Im letzten Ausführungsteil werden drei Szenarien vorgestellt: Erstens die Ukraine erobert ihr Territorium zurück, zweitens Russland gewinnt und erobert die Ukraine und drittens es bleibt bei einer Pattsituation. Egal wie es wird, es muss auf drei Ebenen verhandelt werden. Zum einem auf der strategischen, das wäre USA mit Russland; die zweite Ebene wäre die europäische NATO-Europa und die dritte sozusagen Ukraine - Russland direkt. Dafür bräuchte man Mediatoren, eine Autokratie wie China oder die Türkei kann das wohl nicht sein.

Bezugnehmend auf ein Zitat von Egon Bahr „In der Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um Interessen von Staaten“, nähert sich der Redner dem Schluss.  Lloyd Austin, amerikanischer Verteidigungsminister, erklärte letztes Jahr in Ramstein, dass die maximale militärische Schwächung Russlands ein Ziel sei. Gelingt das, kann sich die USA stärker in den indo-pazifischen Raum orientieren. Das würde aber auch heißen, dass der Krieg noch länger andauert. Außenministerin Annalena Baerbock sieht als Ziel, die vollständige Isolierung Russland und Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt, Russland darf nicht gewinnen. Europäisches Ziel müsste eine wieder funktionierende stabile Sicherheitsordnung sein.

Ein neuer Eiserner Vorhang ist nicht auszuschließen, wichtig dabei wäre der Einbau von genügend Durchgängen. Europa muss gestärkt werden, z.B. die Entschlossenheit und Entscheidungsfindung in der Europäischen Union sind wichtig. Allein Militäretats zu erhöhen wird nicht ausreichen, die Reaktionsverfahren müssen angepasst werden. Es sollte wieder über eine stabile sicherheitspolitische Ordnung geredet werden. Die „Zeitenwende“ des Bundeskanzlers liegt nun schon ein Jahr zurück. Am 28. März 2022, hatte Reiner Schwalb schon einmal bei der Sektion zum Thema Ukraine-Russland vorgetragen. An diesem Abend gehen die Teilnehmer mit der Hoffnung auseinander, dass Reiner Schwalb in einem Jahr nicht mehr über den Krieg referieren braucht. 

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