Trotz eines enormen Vertrauenskapitals, das die Regierungen Adenauer, Ehrhardt, Brandt, Schmidt und Kohl in gut vier Jahrzehnten verlässlichen Handelns in der internationalen Politik aufgebaut hatten, war es alles andere als klar, wie sich die Außenpolitik Deutschland entwickeln würde. Es wurde zunehmend deutlich, dass die Sorge vor deutscher Macht nicht mehr das zentrale Problem ist, sondern im Gegenteil die Erwartungen an deutsches Engagement rasant gestiegen sind. Sichtbar wurde das in der Aussage des damaligen polnischen Außenministers Sikorski im Jahr 2011, dass er deutsche Macht heute weniger fürchte als deutsche Untätigkeit.
Von einer wichtigen Mittelmacht mit globalen Interessen sollte in der Tat erwartet werden, dass sie eigene Vorstellungen in der internationalen Politik entwickelt und versucht, diese durchzusetzen. Insofern ist Deutschland tatsächlich vom Konsumenten zu einem wichtigen (Mit-)Produzenten internationaler Ordnung geworden. Bei der Umsetzung dieser Erkenntnisse gibt es gleichwohl eine Reihe an Defiziten.
Der Kern der internationalen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands sollte sich aus Gründen seiner Lage, Größe, Wirtschaftskraft und auch Geschichte vor allem auf seine stabilisierende Funktion in Europa beziehen. Mit Blick auf die Rolle seiner Streitkräfte ergibt sich daraus eine besondere Verantwortung für das Thema Landes- und Bündnisverteidigung, und hier hat Deutschland ab 2014 auch dezidiert Verantwortung übernommen – selbst wenn diese noch keineswegs durch entsprechende finanzielle Ressourcen unterfüttert ist. Aber dennoch lässt sich feststellen, dass Deutschland wie kaum ein anderes Land von der liberalen internationalen Ordnung profitiert, zu deren Erhalt es jedoch zumindest militärisch bisweilen nur wenig beigetragen hat. Die ‚Kultur der Zurückhaltung‘ und die ‚Kultur der Verantwortung‘ sind in den vergangenen Jahren wohl nicht immer richtig austariert worden. Der in einer bestimmten historischen Konstellation nach der Wiedererlangung der vollen Souveränität 1989/90 zu Recht beschworene Gegensatz von ‚Verantwortungspolitik‘ und ‚Machtpolitik‘ ist jedenfalls heute nicht mehr das Kernproblem für deutsche Sicherheitspolitik.
Zurückhaltung – sofern sie dogmatisch bzw. prinzipiell begründet wird – ist dabei nicht die angemessene Grundhaltung. Das bedeutet nicht, dass Deutschland sich künftig leichtfertiger militärisch engagieren und in einer Art Automatismus allen Wünschen und Forderungen von Partnern öffnen sollte. Es bedeutet aber sehr wohl, dass Deutschland in den (vermutlich wenigen) Fällen, in denen der Einsatz seiner Streitkräfte zur Problemlösung nachhaltig beitragen kann, dies im multilateralen Verbund verlässlich tun können sollte. Da ist viel geschehen – aber es bleibt viel zu tun.
Insgesamt muss aktiver vermittelt werden, dass deutsche Geschichte wirksame Mahnung bleiben muss, aber nicht gegen eine aktive Führungsrolle beim Gestalten der internationalen Ordnung, sondern dafür. Die GSP wird sich mit diesem Thema auch in ihrem 4. Berliner Sicherheitsdialog befassen – unter dem Titel „Wieviel Führung verlangt Verantwortung? Deutschlands ungeklärte sicherheitspolitische Rolle" am 6. November 2019 in der Vertretung Sachsen-Anhalts.
Der Autor lehrt Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg und ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik