Deutschlands EU-Vorsitz: Europa aus der Krise führen
Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, zum 4. Mal seit es die Europäische Union gibt. Von Januar bis Juni 2007, dreizehn Jahre sind vergangen, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel schon einmal den Vorsitz. Höhepunkt war die Feier aus Anlass des 50. Jahrstages der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2007 mit der „Berliner Erklärung“ der Staats- und Regierungschefs. Vier Themenbereiche standen im Mittelpunkt: Fortführung des Verfassungsprozesses, Energiesicherheit, Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, innere und äußere Sicherheit. „Europa gelingt gemeinsam“ war das damalige Motto.
Entwicklungsimpulse für die Zukunft
Seither hat sich die Europäische Union stark verändert. Kroatien, das noch bis Ende Juni den Vorsitz hat, war damals Beitrittskandidat und wurde zum 1. Juli 2013 als 28. Mitglied aufgenommen. Grundlage der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist das 18 Monate Programm der Trio-Präsidentschaft. Für diesen Zeitraum haben Deutschland, Portugal (Januar bis Juni 2021) und Slowenien (Juli bis Dezember 2021) gemeinsam Themen und Prioritäten festgelegt. Die Übernahme der sechsmonatigen Präsidentschaft bedeutet den Vorsitz im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union (Ministerrat). Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer, Präsidenten des Europäischen Rates und dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Das sind Charles Michel und Josep Borrell, die aber kein Stimmrecht haben. Obwohl der Europäische Rat keine direkten Kompetenzen hat, gilt er als das wichtigste Gremium der EU. Seine Aufgabe ist, „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ zu geben und „die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür“ festzulegen. Er bestimmt also die strategischen Interessen der Union und legt Ziele und allgemeine Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fest.
Stiefkinder der EU: GASP und GSVP
Eine wichtige Funktion hat die Europäische Kommission als „Verwalterin der EU“. Jedes Mitgliedsland stellt einen Kommissar, Präsidentin ist Ursula von der Leyen. Bevor sie die Brüsseler Bühne betrat, war sie Bundesministerin der Verteidigung. Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist seit dem 1. Dezember 2019 Josep Borrell und damit auch zuständig für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), die ein Bestandteil der GASP ist. Josep Borrell ist einer der Vizepräsidenten der EU-Kommission und hat den Vorsitz im „Rat Auswärtige Angelegenheiten“. Die Funktion des Hohen Vertreters ist mit umfassenden Aufgaben verbunden und wurde mit dem Vertrag von Lissabon 2009 eingeführt. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) 2011 geschaffen, unterstützt den Hohen Vertreter in seiner Arbeit. Vor vier Jahren, am 28. Juni 2016, hat die EU eine neue „Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU“ angenommen. Diese löst die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) von 2003 ab. In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik Nr. 44/Juli 2016 unterzieht die Autorin Annegret Bendiek das Dokument einer kritischen Betrachtung. Von „Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa“ wie die damalige Hohe Vertreterin Federica Mogherini im Vorwort schreibt, kann nach vierjähriger Bilanz nicht viel festgestellt werden. Nach der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019, das aus 705 Mitgliedern (MdEP) der 27 Staaten besteht, wählten die Abgeordneten am 3. Juli 2019 den Italiener David-Maria Sassoli zum Parlamentspräsidenten. Insgesamt leben etwa 450 Millionen Menschen in den Unionsstaaten.
Motto der Ratspräsidentschaft: ´Gemeinsam. Europa wieder stark machen`
Eine der dringendsten Aufgaben, die während des deutschen Ratsvorsitz entschieden werden muss, ist die Festlegung des siebenjährigen Finanzrahmens (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027. Schaut man in den letzten Koalitionsvertrag findet man folgende Aussage: „Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit. Wir wollen einen Haushalt, der klar auf die Aufgaben der Zukunft mit europäischem Mehrwehrt ausgerichtet ist.“ Deutschland hatte 2018 für den Haushalt einen Nettobeitrag von 0,39 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geleistet. Das sind 161 Euro pro Einwohner. Deutschland ist der größte Einzahler in den Haushalt der EU.
Breite Themenpalette warte auf Entscheidungen
Unabhängig vom zukünftigen Finanzrahmen und der damit verbundenen Haushaltsordnung, hat sich die Bundesregierung für den Vorsitz einiges vorgenommen. Vier Schlagworte zeigen das auf: Digitalisierung, Europäisches Asylwesen, Bekämpfung des Klimawandels (Green Deal) und natürlich der Brexit. Das größte außenpolitische Vorhaben der Kanzlerin, ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im September in Leipzig wurde erst einmal vertagt. Das Verhältnis der EU zum Reich der Mitte bedarf einer neuen Justierung und verbesserten Partnerschaft.
Sars-CoV-2 brachte alles durcheinander
Ein brandaktuelles komplexes Thema ist in die Ratspräsidentschaft hineingeplatzt, die Corona-Pandemie. Sie hat alle Länder getroffen, einige davon stark. Mängel und Lücken im Gesundheitssystem traten offen zu Tage, für die nach Lösungen gesucht werden muss. Ein leistungsfähiges gesamteuropäisches Gesundheitssystem muss das Ziel sein, um zukünftig Epidemien und Pandemien effektiver in den Griff zu bekommen. Unabhängig von dieser Problematik steht die Ankurbelung der Wirtschaft an erster Stelle aller Bemühungen. Die Weltwirtschaft hatte sich allerdings schon vor der Corona-Pandemie abgekühlt. Ohne den Aufschwung in den EU-Mitgliedsländern, den USA, China und anderen Wirtschaftszonen, nützen die besten Vorsätze und Programme nichts. Nur Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit bringen den notwendigen Wohlstand und stärken damit den Zusammenhalt der Mitgliedsaaten. Die Kanzlerin will zeigen, dass die EU ein international fähiger, nicht zu unterschätzender Akteur ist.
Interesse am „Wiederaufbau“ haben alle Mitgliedstaaten
Dazu gehört der Vorschlag der Bundeskanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, einen 500 Milliarden Euro Fonds für den wirtschaftlichen „Wiederaufbau“ nach der Corona-Pandemie aufzulegen. Dieser Fonds soll durch eine gemeinsame EU-Schuldenaufnahme über den EU-Haushalt finanziert werden. Daraus sollen dann Zuschüsse an bedürftige Mitglieds-staaten gezahlt werden. Gegen diesen Vorschlag erhob sich schon kurz danach Widerspruch von Österreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden. Auch die vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn haben Vorbehalte gegen den Plan. Die „Sparsamen Vier“ um Kanzler Sebastian Kurz verständigten sich auf einen Gegenvorschlag. Nun lag der Ball im Feld der Kommissions-präsidentin, die ihn ergriff. Sie stockte den Macron-Merkel-Vorschlag gleich um 250 Milliarden Euro auf, nach dem Prinzip: Nicht kleckern, sondern klotzen. 500 Milliarden sollen als nicht rückzahlbare Zuschüsse und 250 Milliarden als Darlehen vergeben werden. Am 11. Juni konferieren die Finanzminister, eine einvernehmliche Lösung soll am 18./19. Juni, noch unter kroatischer Ratspräsidentschaft fallen.