„Nur wenn wir unsere eigene Sicherheit ernst nehmen, wird das Amerika auch tun“. Diese Aussage von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in einer Grundsatzrede am 17. November 2020 bezieht sich im Grundsatz auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Lassen wir daher die mögliche sicherheitspolitische Entwicklung der atlantischen Allianz unter der neuen Regierung von Joe Biden außen vor. Über die „NATO 2030: United for a New Era“ wird bei dem 16. Peterberger Gespräch zur Sicherheit am 13. März referiert. Die Keynote hat der von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eingesetzte Leiter der Expertengruppe, der ehemalige Innen- und dann Verteidigungsminister, Thomas de Maizière, übernommen.
Durch die intensive Beschäftigung mit der Corona-Pandemie und deren Folgen in allen Unionsstaaten ist das sicherheitspolitische Politikfeld momentan nicht gerade im Fokus des öffentlichen Interesses. Das war an der geringen Medienberichterstattung über den 44-Tage-Krieg (27.9.-19.11.2020) zwischen Armenien und Aserbaidschan und die geringe Resonanz in der Öffentlichkeit zu beobachten. Hinzu kamen der politische Systemwechsel in den Vereinigten Staaten und der BREXIT, so dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) der Europäischen Union (EU) etwas aus dem Blickfeld gerieten. Nachfolgend wird deren Entwicklung und Zukunft skizziert, soweit dies momentan möglich ist.
Schon die Gründerväter Europa wollten die wirtschaftliche und politische Integration durch sicherheitspolitische Integration ergänzen. Deshalb schlossen die Mitglieder der Montanunion am 27. Mai 1952 einen Vertrag über die Bildung integrierter Streitkräfte. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), basierend auf dem `Pleven-Plan` von 1950 sollte 1954 in Kraft treten, scheitert jedoch am 30. August am Veto der französischen Nationalversammlung. Damit waren erst einmal für viele Jahre Außen- und Sicherheitspolitische Integrationsgedanken vom Tisch. Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EZP) bekam dann nach 1970 einen Schub, wobei sicherheitspolitische Fragen vorerst ausgespart blieben. Da alle Mitglieder der EPZ auch der NATO angehörten sollte die sicherheitspolitische Verantwortung bei der atlantischen Allianz bleiben. Ereignisse wie die sowjetische Besetzung Afghanistans in den letzten Dezembertagen 1979 oder die Revolution im Iran zeigten den Europäern, dass sie politisch nicht in der Lage waren außen- und sicherheitspolitisch zusammen zu arbeiten. Mit der Deklaration zur Europäischen Union in Stuttgart (17.-19. Juni 1983) und der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte, auch Vertrag von Luxemburg genannt, (17./28. Februar 1986) wurden u.a. außenpolitische Harmonisierungsziele auf Teilbereiche der Sicherheitspolitik übernommen.
Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident Francois Mitterrand schlugen am 6. Dezember 1990 in einer „Gemeinsamen Botschaft“ die Vertiefung und Erweiterung der Kompetenzen der Westeuropäischen Union (WEU) vor. Darin sind Vorschläge zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) enthalten. Am 4. Februar 1991 veröffentlichten die Außenminister Frankreichs und Deutschlands einen Vorschlag für die zu künftige Ausgestaltung der GASP. Darin heißt es u.a. „Die GASP soll am Ende die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung eröffnen und die Atlantische Allianz, die für europäische Sicherheit und Stabilität unverzichtbar ist, wird von dieser Entwicklung profitieren. In der Entwicklung eines europäischen Pfeilers in der NATO soll sich in der Sicherheit und Verteidigung eine europäische Identität widerspiegeln.“ Widerstand gegen diese deutsch-französische Initiative gab es in Großbritannien, Portugal und den Niederlanden. Aber letztlich kam es beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Maastricht (9./10 Dezember 1991) zur Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Union. Er trat am 1. November 1993 in Kraft und löste u.a. die Europäische Politische Zusammenarbeit (EZP) durch die GASP ab.
Die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hielt aber mit der GASP nicht Schritt. Bremsfaktor war die britische Regierung, die außerhalb der NATO keine Parallelorganisation wollte. Nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Tony Blair, Premierminister von 1997-2007, änderte sich die britische Haltung. Die gemeinsame französisch-britische Erklärung von St. Molo (3./4. Dezember 1998) brachte ein Umdenken. Ein Grund dafür war sicher die Balkankrise der neunziger Jahre, die die Handlungsunfähigkeit der EU deutlich machte. Kernaussagen der Erklärung waren: Die kollektive Verteidigung bleibt weiterhin Aufgabe der NATO, die europäischen Staaten müssen im Rahmen der GASP und innerhalb der EU-Institutionen die Befähigung zu eigenständiger Krisenbewältigung erwerben, neue Strukturen sind so zu schaffen, dass eine Dopplung von NATO-Strukturen ausgeschlossen bleibt, militärische Kräfte für Petersbergoperationen werden entweder dem Europäischen Pfeiler der NATO entnommen oder auch von Nicht-NATO-Staaten bereitgestellt.
Das Gipfeltreffen von Köln (3./4. Juni 1999) war die eigentliche Geburtsstunde der ESVP. Die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, notwendige Fähigkeiten und Mittel für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bereitzustellen. Damit war der Abschied von der Westeuropäischen Union eingeläutet, deren Ministerrat im Juni 1992 auf dem Petersberg bei Bonn die sogenannten Petersberg-Aufgaben zur Konfliktbewältigung definiert hatte. Das sind humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Friedenerhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die ESVP ein integraler Bestandteil der GASP ist.
Unter Javier Solana, dem ersten „Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ wurde eine Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) mit dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt “ vom Europäischen Rat am 13.Dezember 2004 verabschiedet. Die ESS ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten werden die fünf Hauptbedrohungen Europas analysiert: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikte, gescheiterte Staaten und organisierte Kriminalität. Abgelöst wurde die ESS durch die „Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU“. Die Hohe Vertreterin für die GASP Federica Mogherini legte ihre „Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa“ am 28. Juni 2016 vor. In einem SWP Papier von Juli 2016 ist zu lesen: „Die Antworten auf die ´Globale Strategie´ auf die genannten Herausforderungen sind von vielen Zweideutigkeiten und Unklarheiten geprägt“. Seitdem sind gut vier Jahre vergangen und die EU beschäftigt sich mit einer gemeinsamen Verteidigungsplanung der Zukunft. Eine Bedrohungsanalyse ist fertig, allerdings als geheim eingestuft, so dass daraus noch nichts in der Öffentlichkeit ist. Sie soll aber Gefährdungs-wahrheiten aus „360 Grad“ Richtungen für das nächste Jahrzehnt beinhalten. Daraus auch die militärischen Fähigkeiten abzuleiten, die gebraucht werden um mit den Bedrohungen des nächsten Jahrzehnts fertig zu werden, darüber wollen die Verteidigungsminister im ersten Halbjahr 2022 sprechen. Frankreich hat dann den Ratsvorsitz und will den „strategischen Kompass“ vorstellen. Man darf gespannt sein, in welche der Gefährdungsrichtungen: Ostflanke der NATO, Nordregion Arktis oder mehr nach Süden Richtung Mittelmeerraum die Magnetnadel ausschlägt.