Seit dem 24. Februar 2022 führt die Russische Föderation Krieg gegen die Ukraine. Präsident Wladimir Putin hat seine Eroberungsabsichten des Nachbarlands wiederholt öffentlich ausgesprochen. Vor dem Überraschungsangriff war davon keine Rede. Der Aufmarsch der Truppen, wurde immer wieder betont, sei nur zu Manöverzwecken erfolgt. Egal welcher Staats- oder Regierungschef in Moskau zur Deeskalation der Ukrainekrise beitragen wollte, wurde hinters Licht geführt.
Dieses Verschleierungsverhalten erinnert an die sogenannte „Stalin-Note“ vom 10. März 1952. Vor 70 Jahren versuchte der Diktator der Sowjetunion Josef Stalin mit der nach ihm benannten Note, oder auch „März- bzw. Deutschland Note“ genannt, seine wahren politischen Absichten zu verschleiern. Bei Politikern aller Parteien, Historikern, Publizisten oder auch in der Öffentlichkeit gingen die Meinungen über die wahren Absichten Stalins auseinander. Genauso wie es jetzt Putin seit Jahren gelang, seine wahren Absichten zu verbergen. Was beinhaltete die „Stalin-Note?“.
Überraschung für die Alliierten
Am 10. März 1952 übergab Andrej Gromyko, stellvertretender sowjetischer Außenminister, in Moskau den Botschaftern Großbritanniens, Frankreichs und der USA eine Note an ihre Regierungen, deren Inhalt überraschte. Man fragte sich, sollte nach den bisherigen Konfrontationen des Kalten Krieges auf einmal ein Tauwetter in den Beziehungen angebrochen sein?
Ein Auszug aus der Note macht die Verblüffung der westlichen Politiker und Diplomaten verständlich.
Politische Leitsätze:
1. Deutschland wird als einheitlicher Staat wieder hergestellt. (…)
2. Sämtliche Streitkräfte der Besatzungsmächte müssen spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages aus Deutschland abgezogen werden. Gleichzeitig werden sämtliche ausländischen Militärstützpunkte auf dem Territorium liquidiert.
7. Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat.
Schon am nächsten Tag, dem 11. März wird Bundeskanzler Konrad Adenauer bei einer Routinesitzung der Alliierten Hohen Kommissare in Bonn über die „Stalin-Note“ informiert. Er äußert sich dahingehend, dass die Note „unsere Politik nicht ändern“ werde. Die Verhandlungen über den Deutschlandvertrag und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) müssten so fortgesetzt werden, „als ob es die Note nicht gebe“.
Ein Ziel war die Neutralisierung
Für Adenauer ist die Note ein Störmanöver gegen die laufenden Vertragsverhandlungen und diese will er ohne Zeitverzögerung möglichst zum Abschluss bringen. Ziel seiner Politik ist die Westintegration. In dem „Musterfriedensvertrag“ sieht der Kanzler den Versuch, die Westmächte in langzeitige ergebnislose Konferenzen zu verwickeln und damit die Vertragsverhandlungen zu unterlaufen. Politische Gegner interpretieren sein Verhalten dahingehend, dass er nicht an einer Wiedervereinigung interessiert ist. In der DDR wird die „Stalin-Note“ zu einer Propagandakampagne benutzt. Auf Betriebskundgebungen, bei Unterschriftensammlungen, Briefaktionen an westliche Politiker, Publizisten und Medienwird das „Friedensangebot des weisen Führers“ Stalin bekannt gemacht. Nach einer Abstimmung unter den Alliierten – die Bundesrepublik war ja nicht Adressat der Note und stand noch unter Besatzungsrecht – übergeben diese am 25. März 1952 in Moskau identische Antworten. Mit Spannung wird hier in den drei Hauptstädten London, Paris und Washington die Antwort erwartet, diese kommt am 9. April.
Unerlässliche Voraussetzung: Freie Wahlen
Die Erkenntnis und Bewertung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Moskau stimmt zwar der „Erörterung von freien Wahlen zu, lehnt jedoch die unabhängig davon schon am 20. Dezember 1951 eingesetzte UN-Kommission, die die Voraussetzung solcher Wahlen prüfen soll, ab. Die Durchführung freier Wahlen war im Vorschlag der Alliierten zu „Conditio sine qua non“ erklärt worden. Da diese Bedingung aber letztlich nicht akzeptiert wird, ist eine grundsätzliche Voraussetzung für den Weg zu einer Wiedervereinigung erst einmal ausgeschlossen. Außenpolitisch sollte das vereinte Deutschland neutral sein.
Nach gut einem Monat, am 13. Mai 1952, antworten die Westmächte den Sowjets. Deren Antwort, die 3. Note vom 24. Mai trifft kurz vor Unterzeichnung des Deutschland-Vertrages und des EVG-Vertrages ein. Am 26./27. Mai werden diese Verträge in Paris unterzeichnet. Der sowjetische Versuch, in letzte Minute die Unterzeichnung zu verhindern, ist nicht gelungen. Die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland ist vollzogen, der Bundeskanzler hat sein Ziel erreicht. Dass die EVG 1954 schließlich an der französischen Nationalversammlung scheitert, ist ein anderes Thema. Es kommt dann noch zu drei weiteren Notenwechseln, die sich bis zum September 1952 hinziehen, ohne dass sie konkrete Auswirkungen auf die Deutschlandpolitik haben.
Die Legende von der verpassten Gelegenheit
Am 5. März 1953 stirbt der sowjetische Diktator, am 17. Juni beginnt der Volksaufstand in der DDR, der von den sowjetischen Besatzungstruppen blutig niedergeschlagen wird. Am 27. Juli 1953 endet der am 25. Juni 1950 begonnene Koreakrieg mit dem Waffenstillstand. Noch heute besteht das Land aus einen kommunistischen und einen demokratischen Teil. In der Bundesrepublik taucht die Legende von der verpassten Gelegenheit der Wiedervereinigung auf. Ihr Ursprung ist im Buch von Paul Sethe „Zwischen Bonn und Moskau“, das 1956 erscheint, zu finden. Als dann noch im Januar 1956 im Deutschen Bundestag Thomas Dehler und Gustav Heinemann eine Generalabrechnung mit der Politik Adenauers wegen der angeblich versäumten Gelegenheit der Wiedervereinigung vornehmen, verfestigte sich die Legendenbildung der verpassten Chance. Verwirklicht wurde sie dann auf friedlichem Weg am 3. Oktober 1990.