Sektion Bonn

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Dienstag, 25.05.2021 - 19:00

Zwischen Braindeath und strategischer Diskussion - Die NATO in den 2020er Jahren

Die NATO ist nach wie vor der wesentliche Eckpfeiler europäischer und transatlantischer Sicherheitspolitik. Im Laufe Ihrer Existenz hat sie sich als politisches und militärisches Bündnis geänderten Rahmenbedingungen stets angepasst. Gleichwohl steht sie heute vor großen Heraus-forderungen. Sie wird in Relation zu adhoc Koalitionen in der gegenwärtigen Welt in Frage gestellt, muss Krisenreaktionsfähigkeit und Bündnisverteidigung zeitgleich kombinieren und sich im gesamten Spektrum von nuklearer Abschreckung, konventionellen Fähigkeiten, Cyber-Bedrohung bis hin zu Spezialkräften einsatzfähig gestalten.
Vortrag mit begrenzter Teilnehmerzahl + Videokonferenz

 

 

Referent: Generalleutnant Hans-Werner Wiermann , Director General of the NATO International Military Staff im NATO-Hauptquartier

Referent: Generalleutnant Hans-Werner Wiermann, NATO DGIMS, Copyright Foto: Jan Heidbrink


Das Team der Sektion Bonn mit dem Referenten von links: J. Ortschig, Ch. Heidbrink, B. Roelen, GenLt H.-W. Wiermann, J. Schulz, R. Rohde, Copyright Foto: Jan Heidbrink

 

Nachbericht zum Vortrag „Zwischen Brain Death und strategischer Diskussion – die NATO in den 2020er Jahren“ am 25.05.2021

Der Director General International Military Staff der NATO, Generalleutnant Wierman, trug zu „Zwischen Brain Death und strategischer Diskussion – die NATO in den 2020er Jahren“ vor.

Der Vortrag konnte erstmals wieder seit Langem neben einer Live ZOOM- Videoübertragung auch als Präsenzveranstaltung mit sehr begrenzter Teilnehmerzahl durchgeführt werden. Das Interesse war groß. Ca. 140 Zuhörer nutzen die Möglichkeit der Teilnahme und brachten sich in die anschließende Diskussion ein.

Generalleutnant Wiermann leitete mit einem Zitat von Johnny Cash ein, das sinngemäß lautete: nur wenn ich weiß, wo ich herkomme und wo ich stehe, kann ich sagen, wohin ich will. Er nutzte diesen dreiteiligen Gedankengang für die Gliederung seines Vortrages.

Wo kommen wir her: Die NATO diente in den Zeiten des Kalten Krieges als Gegengewicht zur militärischen Macht der Sowjetunion bzw. des Warschauer Paktes. Es war ein gefährlicher Auftrag, der aber letztlich nur „eindimensional“, nämlich auf Bündnisverteidigung, ausgerichtet war. Wie er es nannte: NATO 1.0.

Nach dem Fall der Mauer 1989 fiel diese militärische Abschreckung und ggf. Kriegsführung weg. Die NATO 2.0 sah als neue Herausforderung das Krisenmanagement (weltweit, auch bei Gewalt in Europa – Balkan). Russland war zum Partner geworden. Aber auch diese Fokussierung auf Krisenreaktion war schließlich eine eindimensionale Aufgabe.

Wo stehen wir heute: Dieses änderte sich schlagartig mit dem Konflikt in der Ukraine und der Besetzung der Krim. Die NATO 3.0 hatte plötzlich zum Krisenmanagement wieder die Aufgabe der Bündnisverteidigung. Ihr Portfolio wurde zweidimensional. Es galt Gedanken aus der Zeit des Kalten Krieges wieder zu entdecken, ohne diese schablonenhaft zu übernehmen. Krisenmanagement erlaubte lange politische Diskussionen über nationale Beteiligung und Bereitstellung von Kräften (Module), die bei aller politischen Kontrolle aber schließlich vom Befehlshaber im Einsatzgebiet relativ selbständig eingesetzt werden konnten. Ziel war die Operations(durch)führung. Bündnisverteidigung aber hat nicht notwendigerweise Zeit für Diskussionen (fait accompli eines begrenzten russischen Übergriffs z.B. auf die baltischen Staaten). Sie soll abschrecken und will gerade keine Operationsführung mit den katastrophalen Folgen für Europa. Es gelte daher die Mechanismen der Abschreckung - und wenn die versage - der Verteidigung wieder zu entwickeln. Dieses sei Konsens, auch wenn im Bündnis unterschiedliche z.T. existentielle Bedrohungswahrnehmungen hinsichtlich der Souveränität und staatlichen Integrität bestünden (Baltikum und Polen als Nachbarn von Russland). Als Konsequenz aus den Ereignissen des Jahres 2014 habe die NATO schnell reagiert mit der Aufstellung von vorwärts stationierten Kräften (2 + 5-Vertrag: Rotationsbasis) an der Grenze zu Russland.

Als Folge der Neuausrichtung galt es eine Militärstrategie zu entwickeln, mit welchen konventionellen und nuklearen Mitteln die erforderliche Abschreckung wieder hergestellt werden kann. Diese wurde im Jahre 2019 implementiert.

Generalleutnant Wiermann betonte weiter, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen im Verständnis zwischen Deutschland und Frankreich gebe, das sich primär dem Terrorismus und nicht Russland als Kernproblem gegenübersehe. Er stellte klar, dass aus seiner Sicht Europa autonom handlungsfähig (europäische Integration) sein müsse (z.B. in Afrika), aber nicht „360°“. Kollektive Verteidigung sei nur im Bündnis mit den USA möglich.

Wo wollen wir hin: Der Vortragende fasste kurz den Auftrag der sog. Reflexionsgruppe zusammen, die im Jahre 2019 eingerichtet wurde, um Gedanken zur zukünftigen NATO zu entwickeln. Er führte ferner aus zum anstehenden NATO- Gipfel am 14.06.2021 und den Gedanken des NATO-Generalsekretärs zur NATO 2030. Dieser sieht die Notwendigkeit, im Nordatlantikrat als höchstem politischen Gremium der Allianz wieder verstärkt politische Konsultationen auf die Tagesordnung zu setzen und neue Themen zu behandeln. Hier werde von den Nationen Kompromissbereitschaft und Konsens auch hinsichtlich der zusätzlichen Finanzierbarkeit erwartet.

Als unmittelbare nächste Schritte, so Generalleutnant Wiermann, gelte es die Militärstrategie in konkrete Pläne umzusetzen und die 2%-Zusage der Nationen einzufordern, um die reaktionsfähige Einsatzbereitschaft der Streitkräfte wieder herzustellen. Man müsse weg von dem Moduldenken der Krisenreaktionszeit hin zu jederzeit verfügbaren Verbänden. Dabei sei auch das Rahmennationenkonzept, bei dem Deutschland eine vorbildliche Rolle spiele, insbesondere für kleinere Nationen von großer Bedeutung, gerade wenn diese nicht über alle erforderlichen militärischen Fähigkeiten verfügten.

Als nächste Schritte erläuterte Generalleutnant Wiermann die neuen Bedrohungen und Herausforderungen, denen sich die Allianz stellen müsse. Er führte aus zu Cyber- Angriffen und Fake News, die als eine Bedrohung unterhalb der Schwelle des „Krieges“ auftreten, gleichwohl eine ernsthafte Gefährdung der Staaten und ihrer Gesellschaften darstellten. Ein ebenso den militärischen Bereich übergreifendes Thema sehe die NATO in der Stärkung der Resilienz. Weiterhin, außerhalb des Militärischen, aber mit Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der NATO, sei die Entwicklung neuer Technologien zu betrachten, bei der häufig zivile Organisationen der Treiber seien. Insbesondere kleinere Staaten verlören hier den Anschluss und damit die Interoperabilität mit den Partnern. Daraus folge, dass sich die NATO entsprechende Strukturen schaffen müsse. Initiative seien auf dem Weg. Aber auch die Globalisierung des eigentlich transatlantischen Bündnisses erfordere neue Überlegungen. China als systemischer Gegner der USA werde zu einer weiteren Schwerpunktverlagerung der USA führen mit Konsequenzen auf deren Engagement in der NATO. Eine Abstützung auf regionale Akteure (Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea) mit gemeinsamen Wertvorstellungen sei daher geboten.

Generalleutnant Wiermann mahnte in seiner Tour d` Horizon der zukünftigen Aufgaben auch an, die Lehren aus Afghanistan zu ziehen. Zudem müsse sich die NATO bisher wenig beachteten Herausforderungen wie dem Klimawandel stellen hinsichtlich der Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Dimension (z.B. Migration).

Alle diese Herausforderungen gelte es zu begegnen – ob sie nun rein militärischer oder auch ziviler Natur seien. Er verwies hierbei auch auf den – vermutlich selten gelesenen - Washingtoner Vertrag, der über die militärische Dimension hinausgehe. Es sei daher folgerichtig, dass die Mitgliedsstaaten den NATO-Generalsekretär beauftragt hätten, bis zum Jahre 2022 ein neues „Strategisches Konzept“ zu schreiben.

Diese Aufgaben seien aber nur kollektiv zu schaffen, wenn die Nationen bereit wären sie zu finanzieren. Er betonte dabei den Mehrwert der NATO gegenüber Einzelanstrengungen der Nationen.

Generalleutnant Wiermann unterstrich zusammenfassend, dass Kooperative Sicherheit, Krisenmanagement und Bündnisverteidigung die Eckpfeiler des Bündnisses auch in Zukunft blieben.

Die folgende Diskussion fokussierte sich u.a. auf die Fragen der Partnerschaft zu Russland, dem Verhältnis zur Ukraine und der Rolle Chinas. Ebenso interessierte das Binnenverhältnis zur Türkei und die regionale Autonomie der EU. Weiterhin bestand Diskussionsbedarf zu Cyberangriffen/-abwehr und der nuklearen Teilhabe.

Generalleutnant Wiermann hat als erfahrener NATO-General und Militärpolitiker an der Schnittstelle zwischen den militärischen NATO-Kommandos und der politischen Führung der Allianz einen tiefen, umfassenden und sachkundigen Einblick in den Zustand der Allianz gegeben. Dabei hat er vor Allem auch nach vorne geblickt und Herausforderungen für die NATO über den rein militärischen Aspekt hinausgehend klar beschrieben. Er war offen in seinen Aussagen und hat sich nicht gescheut, auch ebenso offen über Probleme und Schwierigkeiten sowie die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten zu sprechen.

Der Vortrag zu dem komplexen Thema NATO“ war kurzweilig, ja spannend und für die Zuhörer mit Sicherheit auch in vielen Bereichen ein „eye-opener“.

Den Vortrag können Sie bei YouTube unter Gesellschaft für Sicherheitspolitik anhören. Link: https://youtu.be/KlcqPxGnxcI

Text: Joachim Schulz, Pressebeauftragter GSP Bonn

 

 

 


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