Sektion Bonn
Afghanistan im Kreuzfeuer: Zwischen Taliban und Geopolitik
Berichterstattung zur Podiumsveranstaltung „Afghanistan im Kreuzfeuer: Zwischen Taliban und Geopolitik“
Die GSP und die Junge Gesellschaft für Sicherheitspolitik (JGSP) Bonn luden sie zu einer Kooperationsveranstaltung mit dem Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn, dem Bundesverband Sicherheitspolitik an Hochschulen (BSH) Bonn, der Academy of International Affairs NRW und der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) zu einer Podiumsdiskussion „Afghanistan im Kreuzfeuer: Zwischen Taliban und Geopolitik“ ein.
Dr. Enrico Fels, Geschäftsführer CASSIS, führte zum Thema ein, indem er einen geschichtlichen Überblick gab, die heutige humanitäre Lage beschrieb und die Interessen global und regionaler Akteure darstellte.
In einem Impulsvortrag ging Frau Sara Nanni, MdB (B90/Grüne), die auch im Untersuchungsausschuss „Afghanistan“ des Deutschen Bundestages tätig ist, auf den Abzug der amerikanischen und verbündeten Truppen aus dem Land ein. Sie nannte das sog. „Doha-Abkommen“ ein „Kapitulationsabkommen“, das primär durch die USA mit den Taliban ausgehandelt worden sei, während die europäischen Alliierten wenig bis keinen Einfluss auf die Gestaltung gehabt hätten. Der Westen sei naiv hoffnungsvoll und wenig geeint gewesen. Die dabei zutage getretene vermeintliche Schwäche habe den russischen Präsidenten Putin zu seinem Ukraine-Krieg ermuntert. Es gelte zwei Kernfragen für die Analyse zu stellen: (1) welche Zukunft können wir uns vorstellen bzw. wie gut können wir auch mit „schlechten“ Erfahrungen umgehen und (2) welches Verständnis von Gewalt haben wir bzw. welche Auswirkungen von Gewalt als Interaktionsform bestimmen oder beschränken unseren Handlungsspielraum? Insbesondere angesichts der heutigen Situation, in der Russland, China und andere Staaten nicht nur in Afghanistan u.a. politisch und wirtschaftlich engagiert seien.
Teilnehmer der anschließenden Panel Discussion waren
- Brigadegeneral a.D. Dr. Michael Bartscher, Non-Resident Senior Fellow Institut für Sicherheitspolitik Universität Kiel (ISPK) und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn
- PD Dr. Evelyn Bokler-Völkel, Associate Fellow am CASSIS und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster
- Sara Nanni, MdB (B90/Grüne), Obfrau des Afghanistan-Untersuchungsausschusses
- Prof. Dr. Conrad Schetter, Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC)
Moderiert wurde die Veranstaltung von Daniel Sidiqie, JGSP Bonn.
Zunächst gaben die Diskutanten eine kurze Einschätzung der Lage aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive:
Prof. Dr. Conrad Schetter stellte die gewaltvolle Geschichte Afghanistans in den Kontext kolonialer Kriege seit dem 19. Jahrhundert über den Kalten Krieg bis heute und verwies auf drei Konfliktherde, denen sich das Land ausgesetzt sehe (Pakistan -Indien, Saudi-Arabien – Iran und den zentralasiatischen Staaten einschl. Russlands und Chinas; hinzu kämen islamistische Bewegungen).
Frau Dr. Evelyn Bockler-Völkel widmete sich der Taliban-Ideologie und ihrer Legitimation, die sie als kasuistisch-nationalistisch beschrieb. Man grenze sich zu anderen sunnitischen Bewegungen ab und habe keine missionarische Mission. Die
Taliban hätten seit ca. 30 Jahren eine starke Transformation durchgemacht, seien lernfähig angesichts der Herausforderungen und müssten sich dem Spannungsfeld von Tradition und Gegenwart stellen.
Frau Sara Nanni ging auf Fehleinschätzungen der westlichen Regierungen im Umgang mit einer Lösung des Afghanistan-Konfliktes ein. Man habe die USA immer als „DIE“ einheitlichen USA gesehen, nicht aber die internen Interessen wahrgenommen. Man habe geglaubt, was man sehen wollte. Zudem habe man den Gewaltakteur Taliban nicht verstanden und seine Gewaltvehemenz nicht richtig eingeschätzt.
Brigadegeneral a.D. Dr. Michael Bartscher erläuterte das deutsche Engagement in ISAF, die Fehleinschätzung der Lage und gab der Bundesrepublik Deutschland eine Mitschuld am Misslingen des Afghanistan-Engagements.
Die anschließende, durchaus kontroverse Diskussion betrachtete die innenpolitische Situation, insbesondere die Lage der Frauen. Prof. Dr. Schetter stellte fest, dass das Taliban-Regime ein „nation-building“ von oben versuche und sich dabei einer Politik der Unsicherheit bediene, die für die Bevölkerung belastend sei. Der Staatsaufbau – so Frau Nanni - sei autoritär, drohe Gewalt an und nutze Stasi-Methoden. Frau Dr. Bockler-Völkel wandte sich dem Rückhalt in der Bevölkerung zu. Man habe naturgemäß keine repräsentative Erhebung, die Taliban nutzen aber massiv Kommunikation als Terror und bedienten sich dabei klassischer Stabilitätssäulen diktatorischer Regime: Repression, Legitimationsbegründung (Sicherheit in den Provinzen, unblutiger Regimewechsel) und Kooptation (Einbindung von Bevölkerung durch Aussicht auf eigenen Profit oder eigenes Wohlergehen). Das Land bleibe aber eine geschlossene Gesellschaft, es gebe keine jihadistische Internationale und man liege im Konflikt mit anderen islamistischen Bewegungen.
In einem weiteren Diskussionsaspekt stellte Brigadegeneral a.D. Dr. Bartscher heraus, dass sich Deutschland mit zu wenig Beratern in Afghanistan engagiert und keine eigene strategische Energie für den Einsatz entwickelt habe. Frau Nanni ging speziell auf die Rolle des Bundesnachrichtendienstes (BND) ein. Die Bundesregierung habe nie klare Vorgaben gemacht, es fehlte an der Stringenz der Aufbereitung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und letztlich habe es methodische Defizite in der analytischen Auswertung gegeben. Ihr provokantes Statement: die Politik habe sich aus der Verantwortung genommen.
Ein weiterer Aspekt der Diskussion befasste sich mit der Beziehung zu den Taliban heute angesichts der humanitären Lage im Land. Ein Ansatz auf lokaler Ebene (Prof. Dr. Schetter) funktioniere nicht, sondern es verlange nach Kontakten zur Zentralgewalt. Wenn man nicht als Westen auftrete, würden andere Akteure die Gelegenheit nutzen (China, Russland etc.). Man müsse auch sein „Helfer-Syndrom“ in den Griff kriegen (Frau Dr. Bockler-Völkel) und nicht versuchen, Demokratie zu erklären und zu exportieren, sondern über den Islam ins Gespräch zu kommen. Dem wurde vehement von Frau Nanni widersprochen: die Taliban seien für alle Ansätze bereit – aber hielten ihre Hände entsprechend offen. Es sei ein strategischer Fehler, öffentlich zu erklären, was man wolle. Man müsse sich aber auch darüber im Klaren sein, welche negative Konsequenzen eigenes Handeln habe. Lehren seien aus dem Afghanistan-Engagement Deutschlands – so Brigadegeneral a.D. Dr. Bartscher - bis heute nicht erkennbar gezogen worden. Vor Allem fehle es immer noch an einem ganzheitlichen, ressortübergreifenden Ansatz.
Die anschließende Diskussion griff mögliche Zukunftsgestaltungen, Projekte mit Frauen und Kooperation mit Universitäten auf. Fragen wurden zur humanitären Situation, dem Drogenhandel und zur Lage der Ortskräfte gestellt. Letztlich war auch
die Rolle der wissenschaftlichen Beratung der Politik und ein Strategiedefizit im staatlichen Agieren Gegenstand von Interesse.
Die Diskussionsveranstaltung beleuchtete sehr klar, erfrischend offen und fachlich kompetent aus unterschiedlichen Perspektiven das vergangene westliche Afghanistan-Engagement. Überdeutlich wurden die Defizite im Agieren vor und während des Abzuges der Truppen genannt. Naivität, Blauäugigkeit und auch geringes Interesse an Details waren Merkmale des Handelns. Aber: kontrovers – und vielleicht auch etwas ratlos - blieb der way-ahead im Umgang mit den Taliban: Anerkennen und Hoffen auf Verbesserung der Lage der Menschen in Afghanistan oder Insistieren auf westlichen Werten und das Land damit anderen Akteuren überlassen.
Wie auch immer: die Veranstaltung war spannend, es gab eine lebhafte Diskussion und viel Anregung zum Nachdenken und Weiterdiskutieren.
Besonderen Anteil am erfolgreichen Verlauf der Diskussion hatte der Leiter der Panel Discussion: Herr Daniel Sidiqie, der souverän durch den Abend führte, die Diskutanten gelungen einband und auch das fachkundige Publikum zu seinem Recht kommen ließ.
Erneut hat sich das Kooperationsformat für alle Beteiligten gewinnbringend ausgezahlt.
Text: Joachim Schulz, Pressebeauftragter GSP Bonn