Sektion Elbe-Weser
Müssen wir uns tatsächlich vor Migration fürchten?
Kooperationsveranstaltung der GSP-Sektion Elbe-Weser mit dem Zweckverband Volkshochschule Zeven

Referent: Dr. Yaşar Aydın, Wissenschaftler am CATS der SWP , Wissenschaftler am CATS der SWP
Dr. Yaşar Aydın kam mit vier Jahren nach Deutschland und lebt seitdem fast ununterbrochen in Hamburg. Nach Studium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Hamburg und Lancaster promovierte er mit dem Thema „Topoi des Fremden: Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion“ in Hamburg. Nach Lehrtätigkeiten am Weltwirtschaftsinstitut und an der Hafen City Universität in Hamburg arbeitet er nun als Wissenschaftler am CATS–Centrum für Angewandte Türkei Studien an der SWP/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Internationale Politik, Geopolitik und Geoökonomie, Außenpolitik der Türkei, deutsch-türkische Beziehungen, Türkeiforschung und internationale Migration. Neben Fachbeiträgen schreibt er auch Kommentare für deutsche und türkische Zeitungen. Seine letzten beiden Buchveröffentlichungen sind „‚Graue Wölfe‘ – Türkischer Ultranationalismus in Deutschland“ (2022) und „Türkei“ (2017).
Jütlandstraße 30, 27432 Bremervörde 04761 / 70121

Referent Herr Dr. Yaşar Aydın vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bei seinem Vortrag bei der GSP zum Thema "Müssen wir uns tatsächlich vor Migration fürchten?"

Herr Dr. Yaşar Aydın mit Herrn Werner Hinrichs (Sektionsleiter der GSP-Sektion Elbe-Weser)

Beisitzer GSP Axel Franke, Referent Dr. Yaşar Aydın, stellv. SL Axel Loos
Nachbericht: Müssen wir uns tatsächlich vor Migration fürchten?
Autor: Axel Loos
Das Thema Migration hat den letzten Bundestags-Wahlkampf maßgeblich mitbestimmt. Einerseits benötigt Deutschland Einwanderer, um den demografischen Wandel zu bewältigen und unseren Wohlstand zu sichern, andererseits bringt Migration auch Herausforderungen mit sich. Ist sie also etwas, wovor, wie Populisten behaupten, man Angst haben müsste?
Zu diesem Thema hat die Sektion Elbe-Weser der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) den Hamburger Soziologen und Volkswirt Dr. Yaşar Aydın vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als Referenten gewinnen können. Der vollbesetzte Besucherraum des Kundencenters der EWE spiegelte dann auch das große Interesse an diesem Thema wider.
„Leider fehlt es der Diskussion um Migration oft an Sachlichkeit“ stellt Dr. Aydın fest, daher sei es hilfreich verschiedene Begriffe, auf die immer wieder verwiesen wird, genauer zu betrachten. Bei Migranten handele es sich im wesentlichen um solche Personen, die für eine Zeitdauer von mindestens einem Jahr ihren Wohnsitz aus ihrem Land in ein anderes Land verlegen, während Flüchtlinge aufgrund von Kriegen oder Verfolgungen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Dabei sei Deutschland aufgrund seiner Lebensbedingungen, Arbeitsplatzchancen und Rechtsstaatlichkeit besonders attraktiv. Die psychosozialen Folgen der Auswanderung dürften jedoch nicht unterschätzt werden. Die räumliche Veränderung, die fremde Sprache und die fremden Gepflogenheiten, verbunden mit dem Verlust der eigenen gewohnten Rolle in der Familie und der Herkunftsgesellschaft führten oft zu erheblichem Stress. Sowohl Individuen als auch ganze Gruppen gehen unterschiedlich mit diesem Problem um. Aber dies sei ein „natürlicher Prozess und keineswegs mit Zwang zu erreichen“ so Dr. Aydın. Am Beispiel der ca. 3 Mio. türkischstämmigen Bevölkerung erläuterte der Soziologe, dass diese sich fast gleichmäßig in drei Gruppen aufteilen ließen. Solche, die gut integriert seien, solche die gar assimiliert seien, bei denen also ihre Herkunft kaum noch zu erkennen sei und schließlich solche, die sich augenscheinlich von der Mehrheitsgesellschaft absondern. Dabei müsse die Rolle der Diaspora nicht notwendigerweise als Bedrohung betrachtet werden. Hier entstünden auch Netzwerke, die die Menschen auffingen, Sicherheit gäben und ihnen bei der Integration helfen. Jedoch sorge die Diaspora dafür, dass das Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft oftmals langsamer verliefen.
Die beschriebenen Phänomene seien dabei historisch auffällig konstant. Auch bei den deutschen Einwanderern in den Vereinigten Staaten sei es zu einer sogenannten Segmentierung gekommen, die unter der alt eingesessenen Bevölkerung gern gesehen war. „Man darf Migration weder verteufeln noch idealisieren“ warnte Dr. Aydın. Die Gesellschaft befände sich in einem Migrationsparadox zwischen wirtschaftlicher Notwendigkeit und politischem Druck. Der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstandes könne die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität nicht reduzieren. Doch diese Angst bestehe nur bei einem statischen Verständnis von Identität, meint der Soziologe. „Identität ist eine Lebensaufgabe, und sie ist dynamisch“, erklärte Dr. Aydın. Sie werde bestimmt durch die Familie, Rollenerwartungen Normen und Denkmustern, die keineswegs statisch seien, sondern sich immer wandelten.
In der anschließenden Diskussionsrunde wurden nicht wenige Sorgen geäußert, dass unsere Gesellschaft an einen Punkt der Überforderung angekommen sei. Dr. Aydın räumte diese Probleme unumwunden ein, jedoch warnte er vor schnellen und radikalen Lösungen. Man könne unser Land nicht mit einer Mauer umgeben. Vielmehr sei die Gestaltung der Bedingungen für den Erhalt des gesellschaftlichen Friedens eine tägliche Aufgabe, der sich alle stellen müssten.