Die Renaissance von Carl von Clausewitz. Strategie für Entscheider im 21. Jahrhundert.

Die Renaissance von Carl von Clausewitz. Strategie für Entscheider im 21. Jahrhundert Rezension von Peter E. Uhde

Die Literatur über den preußischen Generalmajor, Heeresreformer, Wissenschaftler und Philosophen Carl von Clausewitz (1780-1831) und sein Hauptwerk Vom Kriege füllt Regale. Trotzdem nimmt sich immer wieder jemand seiner an, derzeit Lennnart Souchon.  Die Renaissance des Carl von Clausewitz, so lautet der Titel des Buches. Damit die Renaissance nicht nur bei Militärs auf Interesse stößt, wurde es mit dem Untertitel Strategie für Entscheidungsträger im 21. Jahrhundert ergänzt.

Nach einem längeren Vorwort und ausführlicher Einleitung folgen Definitionen der von Clausewitz immer wieder verwendeten theoretischen Begriffe Politik, Strategie, Militärstrategie und Krieg. „Clausewitz hinterlässt uns kein widerspruchsfreies Gesamtkompendium, sondern eine umfangreiche Materialsammlung unterschiedlichster Bearbeitungszustände, die er über Jahrzehnte fleißig zusammengetragen hat“. Mit dieser Aussage des Verfassers ist schon einiges über den weiteren Inhalt gesagt. Der Generalmajor vergleicht den Krieg mit einem Chamäleon, das seine äußere Form beibehält, aber seinen Inhalt verändert. Für ihn heißt das aber auch: „Das übergeordnete Ziel des Krieges bleibt ein Frieden, in dem die eigenen Interessen dauerhaft gesichert sind“.  

Nach diesen Ausführungen und Erläuterungen folgt ein historischer Rückblick auf das kriegerische Werden Europas in den letzten Jahrhunderten. Dabei wird auch auf die aktuelle Situation in Europa mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Augenschein in den Nahen Osten dem auf den Angriff der Hamas auf Israel gerichtet. Mit Blick auf die Strategie in der Zeit des Kalten Krieges kommt der Autor zu dem Schluss, dass für Deutschland keine Notwendigkeit bestand, nationale strategische Überlegungen anzustellen. Durch das atomare Patt der Supermächte sei „die Strategie und mit ihr das strategische Denken“ verkümmert. Der englische Stratege Liddel Hart und der französische General Andrè Beaufre werden zitiert. Nach diesen Scharmützeln richtet sich der Blick auf Preußen, auf Clausewitz und die Interpretationen seines Werkes, bevor in den Kapiteln fünf und sechs die Grundzüge und Einzelaspekte von Vom Kriege behandelt werden.
Souchon betrachtet Clausewitz' Leben in seinem sozialen und philosophischen Umfeld in Berlin und analysiert seine Kriegs- und Strategietheorie aus historischer, philosophischer und ganzheitlicher Sicht. In der Rückschau darf nicht übersehen werden, dass in Preußen Sozial-, Bildungs- und Heeresreformen den Staat grundlegend veränderten. Der Konflikt zwischen „rückwärtsgewandten Generälen“ und Reformwilligen musste im Sinne des Fortschritts einvernehmlich gelöst werden. Auf den Lebenslauf von Clausewitz wird hier nicht eingegangen.
Nur ein Urteil Gerhard von Scharnhorsts des preußischen Heeresreformers, den er später einen väterlichen Freund nennen wird, sei zitiert: „Vieles hat er nachzuholen, aber eine geistige Leidenschaft und die kritische Unbefangenheit, die ihn auch vor dem Überkommenen und Übernommenen auf innere Unabhängigkeit drängen lässt, führen ihn zur schöpferischen Freiheit“. Dass an Scharnhorst`s 200. Geburtstag, dem 12. November 1955 die ersten Soldaten der Bundeswehr in Bonn ihre Ernennungsurkunden erhielte, sei am Rande erwähnt.  

Am 12. April 1812 verlässt Clausewitz die preußische Armee, tritt im Juni in russische Dienste und nimmt am Feldzug gegen Napoleon I. teil. Weihnachten 1812 überzeugt er bei Tauroggen den preußischen General York, mit seinem Hilfskorps auf die russische Seite zu wechseln und gegen die Franzosen zu kämpfen. Im April 1814 kehrte er als Oberst in preußische Dienste zurück und wurde am 1. Oktober 1818 jüngster Generalmajor der Armee. Sein Denken und seine Schlussfolgerungen müssen in den Kontext der historischen Umwälzungen und der napoleonischen Epoche gestellt werden. „Wer heute Clausewitz zitiert - wie man Zarathustra, die Mao-Bibel oder das Alte Testament zitiert -, ohne daraus Schlussfolgerungen für das Hier und Heute zu ziehen, benutzt das Werk von Clausewitz falsch und hat es nicht im Geringsten verstanden“.

Wie bereits angedeutet, befassen sich die beiden folgenden Kapitel mit den Grundzügen und Einzelaspekten der Theorie des Werkes Vom Kriege. Sie werden dem Leser die größten Verständnisschwierigkeiten bereiten. Über die Wunderliche Dreifaltigkeit legt sich zunächst der Nebel des Lesers, bis er sich allmählich lichtet. Souchon zerlegt sie in drei Dimensionen (Graphik S. 143/144). Im blinden Naturtrieb, das ist Gewalt, Hass, Feindschaft; im bloßen Verstand, das ist politisches Werkzeug und freie Seelentätigkeit, hier trifft sich das Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls. In einer zweiten Grafik zerlegt er sie als Tetraeder.

Der Einsatz von Militär löst keine Probleme, meist werden sie nur verlagert oder es entstehen nach einiger Zeit neue. Als Beispiel kann der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan dienen. Für Souchon gibt es in Deutschland ein „falsches Verständnis vom Primat der Politik, bei dem die Streitkräfte aus dem politischen Beratungsprozess in Regierung und Parlament weitgehend ausgeschlossen bleiben“. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sollten dann Lehren für künftige Einsätze der Parlamentsarmee ziehen. Clausewitz hatte erkannt, dass Friktionen und Zufälle im Krieg zum Alltag gehören und formulierte es so: „Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit; drei Viertel von dem, worauf das Handeln im Kriege gebaut ist, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit“.

Im umfangreichsten sechsten Kapitel untersucht der Autor einzelne Aspekte und Bausteine der Clausewitzschen Theorie, wie er sie in seinem Werk Vom Kriege der Nachwelt hinterlassen hat. Von der bekannten Feststellung Clausewitz': "Der Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" [im Original länger] meint Souchon, dass deren Sinngehalt nur im engen Dialog zwischen Politik und Feldherr zu verstehen sei. Das mag damals so gewesen sein, lässt sich aber kaum auf heute übertragen. Vom Kriege basiert auf mehr als 130 Feldzugs- und Kriegsstudien. Jeder dieser Kriege oder Feldzüge ist einzigartig und hat andere Ursachen und Wirkungen.

 Das Gefecht steht bei Clausewitz im Mittelpunkt und zieht sich wie ein roter Faden durch seine Theorie. Souchon formuliert: "Ohne die Schlacht gäbe es keine Strategie, kein kriegerisches Genie, keine Gefahr und keine Reibung. Ohne Krieg gäbe es keine Schlacht, denn der Krieg ist ein „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz). Zusammenfassend kann man sagen: „Die Strategie ist der Gebrauch des Kampfes zum Zwecke des Krieges; sie muss also der ganzen kriegerischen Handlung ein Ziel geben, das dem Zweck der Handlung entspricht, d.h. sie entwirft einen Kriegsplan“.

Im siebten Kapitel geht Souchon näher auf die globalen Risiken und Kriege des gegenwärtigen Jahrhunderts ein, hier auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und den Krieg der Hamas-Terroristen gegen Israel. Die neuen Kriegsformen, für die auch der Begriff „hybride Kriege“ verwendet wird, sind sozusagen neue Arten des Kampfes, und diese erfordern moderne Formen des Kampfes. Inwieweit dabei die Gedanken von Clausewitz, die er in Vom Kriege der Nachwelt hinterlassen hat, hilfreich sein können, ist nach Ansicht des Autors möglich. Mit zwei Anwendungsbeispielen, dem Afghanistan- und dem Irakkrieg 2003, belegt er seine Behauptung.

Lennart Souchons eindringlicher Appell zur Rückbesinnung auf den strategischen Denker des frühen 19. Jahrhunderts, Carl von Clausewitz, endet mit einem Epilog, der umfangreiches Quellenmaterial zu Schriften und Literatur über ihn aufführt. Er fordert aber auch dazu auf, in Deutschland einen Denkprozess in Gang zu setzen, der eine zielgerichtete nationale Strategie zur Bewältigung kollektiver Sicherheitsrisiken entwickelt. Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni 2023 ist ein Anfang gemacht worden. Das Buch ist eine anspruchsvolle Lektüre, Textkürzungen hätten der Verständlichkeit nicht geschadet. Ein interessantes Kompendium auch für Reserveoffiziere unter den zivilen Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Verwaltung.

Lennart Souchon: Die Renaissance von Carl von Clausewitz. Strategie für Entscheider im 21. Jahrhundert. Mittler Verlag Hamburg, 2024, 384 Seiten, ISBN 978-3-8132-1138-2, 34,00 Euro. Anmerkung: Souchon ist auch Verfasser von: Carl von Clausewitz. Strategie im 21. Jahrhundert.

 

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