Sie sollen Deutschland sicherer machen - Stationierung US-Mittelstreckenraketen ab 2026 Rezension von Peter E. Uhde

Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland haben am 10. Juli 2024 eine Erklärung zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland veröffentlicht. Der Deutsche Bundestag und die Öffentlichkeit wurden von dieser Entscheidung, die Bundeskanzler Scholz am Rande des NATO-Gipfels in Washington verkündete, überrascht. Inzwischen ist die Biden-Administration nicht mehr im Amt und es bleibt abzuwarten, ob sich die Trumpregierung an diese Vereinbarung halten wird. Im derzeit angespannten transatlantischen Verhältnis zwischen den USA und Deutschland ist mit Überraschungen zu rechnen.
Begründungen und Meinungen zu dieser Entscheidung hat der Herausgeber Johannes Varwick in einem Sammelband mehrerer Autoren veröffentlicht. Er sieht darin „eine der folgenreichsten sicherheitspolitischen Entscheidungen seit Jahren“. Erst Tage nach Bekanntwerden der Einigung der Regierungschefs wurde der Verteidigungsausschuss informiert. Die Parlamentarische Staatssekretärin Siemtje Möller (Verteidigungsministerium) und Staatsminister Tobias Lindner (Auswärtiges Amt) begründeten dies mit der Aufrüstung Russlands mit weitreichenden Raketen und Marschflugkörpern sowohl konventioneller als auch nuklearer Art.
Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auch die Bedrohungslage für Deutschland deutlich verändert. Daraufhin wurde in der Nationalen Sicherheitsstrategie (14. Juni 2023 "Wehrhaft. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland") angekündigt, die Luftverteidigung für Europa grundlegend zu stärken. Beide weisen aber auch darauf hin, dass die Bundesregierung in ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik dem Erhalt und der Weiterentwicklung der globalen Rüstungskontrollarchitektur sowie der Risikominderung und Eskalationsverhinderung" verpflichtet bleibt.
Inhaltlich besteht die Broschüre aus elf Beiträgen, die von zehn Autoren verfasst wurden. Wolfgang Richter führt in die Problematik ein, den konzeptionellen Hintergrund und die Implikationen für die europäische Sicherheit. Ohne auf Details einzugehen, die der Oberst a.D. darlegt und die sicherlich nur Fachleute nachvollziehen können, sind seine Schlussfolgerungen die entscheidenden Aussagen. Er bemängelt das Fehlen einer konzeptionellen Zielvorstellung, womit er die Bedrohung Deutschlands und Europas und die sich daraus ergebenden strategischen und rüstungskontrollpolitischen Konsequenzen bzw. Implikationen meint. Weiterhin vermisst er die Möglichkeit, den Stationierungsbeschluss durch eine kooperative Beteiligung Russlands abzuwenden. Letztlich sieht er die Schleusen für ein neues nukleares Wettrüsten geöffnet. Die Behauptung, Rüstungskontrolle sei mit der russischen Führung nicht möglich, sei „historisch nicht haltbar“. Der ausgesetzte strategische Dialog zwischen den USA und Russland müsse wieder aufgenommen und von Deutschland und Europa unterstützt werden.
Joachim Krause stellt Richters Contra „Stationierung“ ein Pro „Stationierung“ gegenüber. Seiner Meinung nach muss sich Richter „den Vorwurf der Einseitigkeit gefallen lassen“, weil er propagandistisch verbrämte Aussagen der russischen Regierung für bare Münze nehme. Krause vermisst eine Darstellung der russischen Bedrohungslage. Er sieht darin ein Merkmal „rüstungskritischer“ Analysen seit den 1980er Jahren. Die Bedrohung durch Russland sei heute eine andere als zu Sowjetzeiten. Der russische Diktator Putin wolle die politische Ordnung Europas zerstören. Die Erkenntnisse aus dem Ukraine-Krieg zeigen die Fähigkeitslücken, die nur durch Stationierung geschlossen werden können. Die von Richter gesehene Gefahr, dass ein Krieg durch ein technisches Versehen ausgelöst werden könnte, sieht Krause nicht. Ebenso wenig, dass die Stationierung das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland verändern werde. Befürchtungen, dass die Stationierung die nukleare Bedrohung für Deutschland erhöhen könnte, sieht er nicht. Eher, „dass durch die von Richter geforderte Zurückhaltung ein Angriffskrieg Russlands gegen NATO-Staaten wahrscheinlicher wird“. Zusammenfassend stellt Krause fest, dass Richters Argumente einer Überprüfung nicht standhalten. Sie entwerfen zum Teil apokalyptische Szenarien, die weitgehend unrealistisch sind und lediglich dazu dienen sollen, Angst vor westlicher Aufrüstung zu erzeugen - die russische Aufrüstung wird implizit als irgendwie legitim angesehen, zumindest nicht in Frage gestellt.
Für Michael Staack ist die Stationierungsentscheidung „symbolisch“ und „materiell“ gravierend, weil damit nach mehr als drei Jahrzehnten wieder Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert würden, nachdem diese Waffensysteme durch den INF-Vertrag von 1987 abgeschafft worden waren. Auch die „Singularisierung“ der Stationierung in Deutschland und keinem anderen NATO-Staat hält er für problematisch und fragt: „In welchen Gesamtkomplex der NATO-Abschreckungsstrategie passen die neuen Systeme?“ Eine Antwort darauf gibt es nicht. Das war beim NATO-Doppelbeschluss unter Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 1979 noch anders, als sich mehrere Bündnisstaaten dem Stationierungsbeschluss anschlossen.
Hans-Peter Bartels und Rainer Glatz gehen in ihrem Beitrag „Konventionelle Abschreckung braucht Glaubwürdigkeit“ darauf ein und sehen hier einen Investitionsbedarf, dem nicht widersprochen werden kann. Oscar Prust untersucht die Rolle und die Einflussmöglichkeiten des Deutschen Bundestages auf sicherheitspolitische Stationierungsentscheidungen. Er sieht keine Notwendigkeit für eine formelle Parlamentsbeteiligung. Ob dies politisch klug war, wie die massive Kritik des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zeigt, steht auf einem anderen Blatt.
Die weiteren Autoren Wolfgang Hellmich (MdB, SPD), Florian Hahn (MdB, CSU), Alexander Müller (MdB, FDP), Rüdiger Lucassen (MdB, AfD), Dietmar Bartsch (MdB, Die Linke) und Zaklin Nastic (MdB, BSW), allesamt als Sicherheitsexperten ausgewiesen, stellen die Positionen ihrer Parteien zur Stationierung bzw. zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung dar. Hier hätte man mehr inhaltliche Substanz erwartet. Der gesellschaftliche Diskurs über das Für und Wider der geopolitischen und strategischen Entscheidung ist sicherlich noch nicht abgeschlossen. Die Problematik ist komplex, der Leserkreis der Broschüre wird überschaubar bleiben, für Interessierte ist sie zu empfehlen.
Johannes Varwick (Hrsg.): Die Debatte um amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland. Sicherheitspolitische Weichenstellungen der Jahre 2024/2025. Reihe WIFIS-aktuell, Band 79, Verlag Barbara Budrich, Opladen, 2025, ISBN 978-3-8474-3130-5. Euro 7,90