Narwa, Estland, 27. März 2028 Rezension von Peter E. Uhde

In der taktischen Ausbildung spielen der Sandkasten und das Planspiel eine wichtige Rolle. Hier werden Lagebeurteilung und Entschlussfassung geübt. In dem zu besprechenden Buch „Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario“ von Carlo Masala geht es nicht um Taktik oder ein Planspiel. Es handelt von einer Fiktion.
Am 27. März 2028 erobern zwei russische Brigaden überraschend die estnische Kleinstadt Narwa. Es ist das Zentrum der russischsprachigen Minderheit im nördlichsten der drei Baltenstaaten. Bei Sonnenaufgang weht die russische Flagge vom Rathaus. Neben Narwa wird die Estland vorgelagerte Insel Hiiumaa von Soldaten, als Touristen verkleidet, unterstützt von Marineinfanteristen, widerstandslos besetzt. Die NATO und die Regierungen in den westlichen Hauptstädten sind überrumpelt worden. Wie konnte es dazu kommen?
Tatsache ist, seit über drei Jahren kämpft Russland in der Ukraine. Eine Waffenruhe oder ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht, gerade die Ostertage haben das bewiesen. Knapp 20 Prozent des Territoriums sind schon verloren. Ein Sieg Russlands wäre es schon, wenn es die besetzten Gebiete behalten könnte. Doch letztlich geht es nicht um die Ukraine. Angegriffen wird die liberale Weltordnung in der wir leben und die zerstört werden soll. Carlo Masala will zum Nach-, Um- und Weiterdenken anregen. „Die Zukunft ist immer offen“ sagt der Politikwissenschaftler der auch kein Hellseher ist, aber er führt uns durch ein Szenario möglicher Ereignisse.
2028 wird für die Ukraine in Genf öffentlich ein Pseudo-Frieden präsentiert, in Wirklichkeit ist es aber eine „Kapitulation“. Die Aufgabe der besetzten Gebiete und die Aufnahme einer dauerhaften Neutralitätsklausel müssen in die Verfassung. Einen Beitritt zur NATO gibt es nicht. Die Weltbank wird Aufbauprogramme finanzieren, eine UN-Friedenstruppe den Waffenstillstand überwachen. Amerika nutzt Genf, was es schon länger angekündigt hatte, die neue Nachkriegsordnung auf dem Kontinent zur Sache der Europäer zu erklären.
In Moskau kündigt Wladimir Putin seinen Rückzug vom Präsidentenamt an und macht Platz für einen Jüngeren. Im Westen keimt Hoffnung auf, manche Politiker sehen eine neue Ära Gorbatschow auf Europa zu kommen. Wolodymyr Selenski verliert die Präsidentschaftswahlen.
Inzwischen sind die Hauptstädte und die NATO über die Ereignisse in Estland informiert. In einer Schaltkonferenz am 27. März 2028 um 08:30 MEZ erklärt der US-Präsident: „Wegen einer kleinen Stadt in Estland riskiere ich nicht den Dritten Weltkrieg...“. In Moskau lobt der neue Diktator Präsident die erfolgreiche Narwa-Operation seines Militärs, die gelungene Ablenkung durch Söldneraktionen in Mali, die neue Flüchtlingsströme erzeugten, und die Hilfe durch Präsident Xi im Südchinesischen Meer und diskutiert weitere Optionen mit seinen Beratern.
Im Brüsseler NATO-Hauptquartier wird die Lage von den südeuropäischen Bündnismitgliedern, den Mittel- und Osteuropäern sowie den Briten unterschiedlich eingeschätzt. In Washington erhält der Nationale Sicherheitsberater Besuch von einem russischen Diplomaten, der erklärt: "Im Notfall sind wir auf alles vorbereitet“. Das ist eine unverhohlene nukleare Drohung.
Einen Tag später treffen sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Estland hat angesichts der russischen Aggression die Ausrufung des Verteidigungsfalles gemäß Artikel 5 beantragt. Der US-Präsident stellt hingegen fest, dass es sich nur um eine begrenzte Aggression handle, für die er Verständnis habe. Die Esten hätten jahrelang die Rechte der russischsprachigen Minderheit missachtet. „Seine Wutrede schlägt im Saal ein wie eine Bombe“. Der Bundeskanzler versucht, die Wogen zu glätten. Dies gelingt ihm nicht, da sich einige Staaten der amerikanischen Position anschließen. Der Generalsekretär beendet die Sitzung, da keine Einstimmigkeit für die Ausrufung des Artikels 5 erreicht wird. Später erklärt er vor der Presse: „Heute war ein schwarzer Tag für das Bündnis“.
In Moskau und Peking herrscht darüber Freude, dass die Vorherrschaft der USA gebrochen ist. Präsident Xi sieht die chinesische Weltherrschaft in greifbare Nähe und meint: „Ja, und wir bestimmen ihre Entwicklung“.
Im Epilog verlassen wir die Szenarien und wenden uns der aktuellen geopolitischen Lage, dem Krieg in der Ukraine, zu. Welche Lehren lassen sich aus dem Geschilderten für die aktuelle Politik ziehen? Diese hatte keine Strategie, wie mit dem Aggressionskrieg Russlands umzugehen ist. Was ist das eigentliche Ziel der Unterstützung für die Ukraine? Die Formulierung von Bundeskanzler Olaf Scholz: „Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland darf nicht gewinnen“ ist keine Strategie. Russland will nicht nur die Ukraine zerstören. Es handelt sich um einen „Weltordnungskonflikt, bei dem es um die Frage der künftigen Struktur des internationalen Systems geht“. Das haben viele noch nicht begriffen. Militärisch hat sich inzwischen ein „Quasi-Block“ aus Iran, China, Nordkorea und Russland gebildet. Erstere unterstützen Russland mit Waffen und Ausrüstung und das nordkoreanische Soldaten auf russischer Seite kämpfen, ist bekannt.
Putin wird nach wie vor nicht als Diktator wahrgenommen, „für den Gewaltanwendung ein legitimes Mittel zur Durchsetzung vermeintlich russischer Interessen ist“. Sein Ziel ist die Wiederherstellung alter russischer Machtgröße. Die gegenwärtige europäische Sicherheitsarchitektur stört dabei, sie soll beseitigt werden. Um das zu verhindern, braucht es gesellschaftliche Bereitschaft und Resilienz. Carlo Masala sieht hier durchaus Nachholbedarf. Eine empfehlenswerten Lektüre, die zur Nachdenklichkeit anregt.
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario, C.H. Beck Verlag, München, 114 Seiten, ISBN 978 3 406 82448 7, 15,00 EUR.