Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende

Von den Anfängen bis zur Gegenwart - Eine kompakte Analyse der Bundeswehr Rezension von Peter E. Uhde

Der Buchtitel trägt den Namen: „Die Bundeswehr”. Ergänzt wird er durch den Zusatz „Vor der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende“. Der Autor beginnt sein Werk über die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland Mitte der fünfziger Jahre. Am 27. Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages in einer Regierungserklärung, den Begriff Zeitenwende verwendet. Anlass ist der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar, den er als „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ bezeichnete.

Literatur über die Bundeswehr ist seit ihrer Gründung im Jahr 1955 zahlreich erschienen. Auch der Autor Sönke Neitzel ist mit seinem Werk „Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ einer davon. Aus diesem Werk finden sich einige Passagen in dem zu besprechenden Taschenbuch. 

Es gliedert sich in drei Hauptabschnitte: I. Kalter Krieg, II. Out-of-Area (1991 bis 2023) und III. Zeitenwende!? Das Ausrufe- und das Fragezeichen sind kein Tippfehler, sondern weisen bereits auf den Inhalt hin. Der erste Abschnitt ist unterteilt in die Gründerjahre von 1955 bis 1972 und die Konsolidierungsphase bis 1990, also bis zur Wiedervereinigung. Beginnend mit den außenpolitischen Dimensionen nach Gründung der Bundesrepublik und dem Versuch, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen, die an Frankreich scheiterte, folgen die innenpolitischen Bemühungen zum Aufbau eigener Streitkräfte. Es wird auf die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, die administrativen und organisatorischen Vorbereitungen für die neue „Wehrmacht“ und die ersten Skandale eingegangen. Die Titelgeschichte des Spiegels vom 10. Oktober 1962 mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit” kostete Verteidigungsminister Franz Josef Strauß am 26. November den Posten.

In der Phase der Konsolidierung verfügte das Heer über rund 3.700 Kampfpanzer, 1.100 Jagdpanzer und 4.550 Schützenpanzer. Die Beweglichkeit auf dem Gefechtsfeld sollte im Kriegsfall den Ausschlag geben. Klar war aber auch, dass die Sicherheit der Bundesrepublik von amerikanischen Atomwaffen abhängig war. Für Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974–1982) war die Abschreckung ein wichtiger Garant der Sicherheit. Als Verteidigungsminister (1969–1972) hatte er mit Reformen, der Gründung der Bundeswehruniversitäten und des Sozialwissenschaftlichen Instituts bereits versucht, die Attraktivität des Dienstes zu steigern. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Streitkräften zu verbessern war ein ständiges Bemühen. „Die Vorstellung, dass der mündige Bürger aus innerer Überzeugung seinen Dienst in den Streitkräften leistete, machte sich in Hochglanzbroschüren zwar gut. Die übergroße Mehrheit der Wehrpflichtigen tat ihren Dienst aber nicht aus staatsbürgerlicher Einsicht, sondern schlicht, weil sie es mussten“, so der Autor.

Trotz moderner technischer Ausrüstung fehlte Generalinspekteur Jürgen Brand (1978–1982) das Kämpfermotiv in der Bundeswehr. Im Friedensdienst überwogen intellektuelle Fähigkeiten. „Pflichtbewusstsein, Disziplin, Entschlossenheit, Härte, Kameradschaft und Vertrauen müssten die Haltung jedes Soldaten bestimmen.“ Das Heeresamt reagierte 1985 mit der Ausbildungsanweisung „Kriegsnah ausbilden“. Der Inhalt erregte jedoch öffentliches Aufsehen und wurde durch den unverfänglicheren Titel „Einsatznah ausbilden“ ersetzt. Der jetzige Verteidigungsminister Boris Pistorius forderte am 29. Oktober 2023: „Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein, und wir müssen die Bundeswehr und die Gesellschaft darauf ausrichten.“ Also, alles schon einmal dagewesen.

Für die Bundeswehr begann nach Ende des Kalten Krieges mit der „Armee der Einheit“ ein neuer Abschnitt. Während die deutschen Streitkräfte bei der Wiedervereinigung noch rund 600.000 stark waren, mussten sie gemäß dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag auf 370.000 reduziert werden. Die Landes- und Bündnisverteidigung wurde durch neue Auslandseinsätze, „von Somalia bis in den Kosovo“, ersetzt. Die Verteidigungsausgaben erreichten mit 1,07 Prozent im Jahr 2005 ihren Tiefstand. Auch die Wehrdienstzeit wurde ständig reduziert. 1991 betrug sie noch zwölf Monate, 1996 zehn Monate, 2002 neun Monate, 2009 sechs Monate und 2011 wurde sie schließlich ganz ausgesetzt. „Die überbordende Bürokratie, eine teilweise desolate Materiallage, der ‚museumsreife Bürostandard‘ und leere Versprechen zur Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufs führten zu einem zunehmenden Vertrauensverlust.“ Der BEA (Beauftragte für Erziehung und Bildung) des Generalinspekteurs meldete dazu kurz und knapp: „Die innere Lage der Streitkräfte ist angespannt.“ Mit „angespannt” drückte er sich noch zurückhaltend aus. 

Die politische Führung hatte andere Schwerpunkte: Tradition und Rechtsextremismus. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen warf der Truppe ein Haltungsproblem vor. Generalinspekteur Volker Wieker spielte dabei eine unrühmliche Rolle“, so der Autor. Er habe sich nicht vor die Truppe gestellt. Mit Ergänzungen zum Traditionserlass vom Juli 2014 sollte dem „Haltungsproblem” Abhilfe geschaffen werden. Sie erwiesen sich jedoch als Blindgänger und wurden vier Wochen nach Inkrafttreten zurückgezogen.

Im Abschnitt „Mission Impossible am Hindukusch“ beschreibt Sönke Neitzel das Scheitern des längsten Auslandseinsatzes der Bundeswehr. Von den Terroranschlägen vom 11. September 2001 durch Al-Qaida in den USA bis zum Zentralen Abschlussappell des Afghanistan-Einsatzes am 13. Oktober 2021 in Berlin führt er die Leserschaft durch zwanzig Jahre. „Die Bundeswehr hat ihren Auftrag erfüllt“, erklärte der Bundespräsident. Der Autor sieht das anders. „Freilich kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bundeswehr ihren Auftrag nicht (kursiv vom Autor) erfüllen konnte, weil sie ihn nie hat erfüllen können. Den in Gefechten, Terroranschlägen und bei anderen Anlässen gefallenen und getöteten 59 Soldaten wird im „Wald der Erinnerung“ beim Einsatzführungskommando (jetzt: Operatives Führungskommando) in Potsdam gedacht. 

Das Schlusskapitel befasst sich mit der „Zeitenwende“. Sie begann in den Morgenstunden des 24. Februars 2024 mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, ist so perplex, dass er Folgendes schreibt: „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Es wird auf das politische Hin und Her zur Unterstützung des angegriffenen Landes eingegangen, bis hin zur Aussage von Boris Pistorius: „Wir müssen kriegstüchtig werden – wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Auch die neue Regierung hat die alten Probleme übernommen. Momentan versucht die Koalition, sich auf ein Wehrdienstmodell zu einigen. Das Personalproblem der Zukunft ist jedoch nicht die einzige Front, an der gekämpft wird; es gibt noch genügend andere Baustellen. Wer sich damit befassen möchte, dem sei das Taschenbuch von Sönke Neitzel, dem Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, empfohlen. Inzwischen ist es in der fünften Auflage erschienen. 

Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende. 
C. H. Beck Wissen, 4. Auflage 2025, 128 Seiten, Format: 11,8 x 18 cm, ISBN: 978-3-406-83051-8, 12,00 Euro.

 

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