Russlands Transformation unter Putin Rezension von Peter E. Uhde
Auf dem Titel prangen zwei „grüne Männchen“, einer hat einen Pinsel in der rechten Hand. In roter Farbe springt ins Auge: RUSSLAND. Auferstehung einer Weltmacht? Das Fragezeichen deutet an, dass der Autor Manfred Quiring von einer Auferstehung Russlands zur Großmacht wohl nicht überzeugt ist. Vielleicht will er mit dem Fragezeichen den Leser neugierig machen? Ob dieser nach der Lektüre des rund 275seitigen Inhalts, dazu gehören 352 Anmerkungen, es durch ein Ausrufezeichen ersetzen würde, muss er dann selbst entscheiden.
Manfred Quiring hat mehr als zwei Jahrzehnte als Korrespondent für Printmedien in der ehemaligen Sowjetunion und nach deren Zerfall auch in Russland gearbeitet. Drei seiner Bücher „Putins russische Welt“, „Pulverfass Kaukasus“ und „Der vergessene Völkermord“ befassen sich ebenfalls mit dem Imperium der vergangenen Jahrzehnte. Im Mittelpunkt des neuen Buches steht unangefochten, von allen Seiten betrachtet und die Fäden der Macht ziehend Wladimir Wladimirowitsch Putin. Der Aufstieg des Geheimdienstoffiziers aus der Dresdener Außenstelle des KGB (1985-1990) zum Vize-Bürgermeister in Sankt Petersburg (1994), Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB (1998) und schließlich zum Ministerpräsidenten am 9. August 1999 vollzieht sich in schnellen Schritten. Der nächste Karriereschritt erfolgt zu Silvester 1999. Der erste Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, erklärt überraschend seinen Rücktritt. Gemäß der Verfassung wird Putin zum amtierenden Präsidenten ernannt. Bei der am 20. März 2000 stattfindenden Wahl erhält er 53 Prozent der Stimmen. Mit „Putins Säulen der Kleptokratie“ öffnet der Autor dem Leser die Augen für die Machtzementierung des Putinimus von der ersten und zweiten Präsidentenperiode, dem Zwischenspiel als Ministerpräsident bis hin nun zur vierten Amtszeit als Präsident. Als Rückgrat der Macht werden Institutionen und Personenkreise beschrieben, z.B. die verschiedenen Geheimdienste, die Chefs der Staatsunternehmen und seine Freunde aus der Petersburger Zeit. Hier im einstigen Leningrad wurde Putin am 7. Oktober 1952 als Sohn eines Fabrikarbeiterpaares geboren. An der Staatlichen Universität studierte er Jura, das er 1975 abgeschlossen hatte. Die undurchsichtigen wirtschaftlichen Verpflechtungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien runden die vier Stützen der Bereicherung durch das Ausnutzen gesellschaftlicher Privilegien ab. Durch die Panama-Papers kam 2016 etwas Licht ins Dunkel. Nicht zu übersehen sind als Stütze des System-Putin der militärisch-industrielle Komplex und die russisch-orthodoxe Kirche, deren Bedeutung im Laufe der letzten Jahre stärker geworden ist.
Nach diesen Eingangsfeststellungen untersucht der Autor den Traum von der Großmacht des Kremls. Seit der Zarenzeit sind diese Gedanken - mal mehr, mal weniger - stark im Volk verhaftet. Die Sowjetunion versuchte diese Rolle als Atommacht, als Pendant zu den USA, immer politisch zu demonstrieren. Wirtschaftlich blieb sie aber weit hinter dem Militärischen zurück. Der Abzug der 380.000 Soldaten aus der ehemaligen DDR 1994 ist als Trauma noch nicht bewältigt, genau so wenig wie der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes. Eine mögliche Westintegration in den 90er Jahren wurde vom Präsidenten und der russischen Elite abgelehnt, weil sie die Führerschaft der USA nicht akzeptieren wollten. „Die uneingeschränkte Souveränität“, ist ein immer wieder von Putin gern gebrauchter Begriff. Nicht nur Souveränität, nein sie muss uneingeschränkt sein. Diese politische Staatsraison hätten aufmerksame Beobachter nach Putins Rede auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 schon erkennen können. Im ersten (1994-96) und zweiten (1999-2009) Krieg gegen Tschetschenien, gegen Georgien (2008) und gegen die Ukraine (seit 2004) wird militärische Gewalt eingesetzt.
Mit einer immer wieder in die Welt gesetzten Behauptung, dass mit der deutschen Wiedervereinigung die Zusage gegeben wurde, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehne, wird aufgeräumt. Gorbatschows Aussage gegenüber der Zeitung „Kommersant“ im Oktober 2014: „Das Thema ‚NATO-Expansion‘ wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in diesen Jahren [1989-1990] nicht aufgeworfen“. Der Blick auf die russische Sicherheitspolitik wird ausführlich im Textteil über Raketen behandelt. Wie es nach Auslaufen des INF-Vertrags weltweit mit den darunter- fallenden Waffensystemen weitergeht, ist offen. Russland sieht in ihnen eine Garantie seiner Sicherheit.
Der Blick nach China fehlt im Buch natürlich nicht. Das Reich der Mitte wird hauptsächlich unter wirtschaftlichen Möglichkeiten betrachtet und wie Russland davon profitieren kann. Die Aktivitäten der Neue Seidenstraße werden beobachtet. Auch die 2015 gegründete eurasische Wirtschaftsregion spielt eine Rolle. Sie gehört zu Putins Prestigeprojekten. Die Entwicklung der östlichen Territorien geht aber immer noch langsam voran. Genauso wie der Blick nach Osten, gehen sie nach Norden in die Arktis und nach Süden auf den afrikanischen Kontinent. Die Arktis mit ihren vermuteten Rohstoffvorkommen, wird als russisch angesehen. Hier liegt Konfliktstoff mit anderen Anrainersaaten, wie USA, Dänemark, Norwegen und Kanada. Die Vorkommen sollen immens sein und an der Ausbeutung ist nicht nur Russland interessiert. Unabhängig vom Interesse an den Bodenschätzen ist durch den Klimawandel die weitere Reduzierung des „ewigen Eises“ wahrscheinlich. Dadurch öffnet sich eine neue Seeroute vom Atlantik bis zum Pazifik. In Erinnerung gerufen wird die sowjetisch-russische Verbindung zu verschiedenen Staaten in Afrika. Seit 1970 erhielten 400.000 afrikanische Studenten eine Ausbildung in der Sowjetunion und später in der Russischen Föderation. Momentan wird von rund 5.000 afrikanischen Studenten an russischen Universitäten ausgegangen. Russlands Rückkehr nach Afrika ist also nicht von der Hand zu weisen. Bei dem Engagement auf dem afrikanischen Kontinent, dürfen nicht die Aktivitäten in Mittel- und Lateinamerika unterschätzt werden.
Es sind nur einige Tage bis zum 9. Mai. Dieser Tag ist einer der wichtigsten Feiertage in Russland. Der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland vereinigt Familien, Veteranen legen ihre Auszeichnungen an und die politische Prominenz nimmt die größte Militärparade in Moskau ab. Dabei wird an Waffen und Gerät gezeigt was man hat. Im 75. Jahrtag des Kriegsendes sollte auf dem Roten Platz nochmals alles überboten werden, was in den Jahren davor schon demonstriert worden war. Durch die Corona- Epidemie fällt die Militärparade aus.
Sechs Jahre ist es nun her, seit die Krim über Nacht okkupiert wurde. Sogenannte „Selbstverteidigungskräfte“ sind immer noch in der Ostukraine tätig. Der Abschuss des Passagierflugzeuges MN17, eine Boeing 777-200 der Malaysian Airlines am 17. Juli 2014 über dem Kampfgebiet, bei dem alle 298 Insassen den Tod fanden, ist weiter ungesühnt. Die Beteiligung Russlands am Syrien-Krieg sieht Wladimir Putin positiv. Das russische Militär hat das Regime von Baschar Hafiz al-Assad vor dem Sturz bewahrt und Russland ist zu einer Schlüsselmacht im Nahen Osten worden. Dazu gehören Geschäftsbeziehungen zum Iran, der Türkei und die militärische Beteiligung an den Kämpfen in Libyen. „Unsere Streitkräfte haben so praktische Erfahrungen gesammelt, die sie bei keiner Friedensübung hätten sammeln können“, so Präsident Wladimir Putin. Schließlich bleibt am Ende des Buches die Frage, wie können die Beziehungen zu Moskau, die so schlecht sind wie nie seit dem Ende des Kalten Krieges, wieder normalisiert werden? Russland braucht den Westen als Devisenbringer für seine Gas- und Ölgeschäfte. Die Europäische Union (EU), weder Deutschland, noch Frankreich oder eines der anderen 25 Mitgliedstaaten kann im Alleingang für ein partnerschaftliches Verhältnis sorgen. Eine Appeasement-Politik, also ständiges Nachgeben gegenüber dem Kreml wird keine Veränderung bringen. Schließen wir mit dem Zitat 352 des Buches das Manfred Quiring gewählt hat. Es stammt von dem Oppositionspolitiker Grigorij Jawlinskij: „Ich sage Ihnen: Putin versteht nur die Sprache der Macht, der Stärke“. Das bedeutet, dass die Europäische Union und das nordatlantische Bündnis mit einer Stimme sprechen müssen. Dem Autor ist es gelungen einen Zustandsbericht vorzulegen, der die Situation und Lage in der Russischen Föderation sachlich darstellt.
Quiring, Manfred (2020): RUSSLAND. Auferstehung einer Weltmacht, Christoph Links Verlag, Berlin, ISBN 978-3-96289-078-0, 20,00 Euro.