Es ist schon etwas stiller geworden um den „Auswahl-Wehrdienst“ von Boris Pistorius. Noch vor Tagen überschlugen sich Meldungen und Nachrichten, bei denen der Verteidigungsminister immer mitten drin war. Der frühere Wehrbeauftragte und jetzige Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) Hans-Peter Bartels meinte zu den Aussagen und Vorstellungen „lieber kleine Brötchen backen.“ Nach dem Pistorius-Modell sollen künftig alle 18-jährigen Männer und Frauen mit deutschem Pass Online einen Fragebogen erhalten und ihn beantworten, Frauen nur freiwillig.
Ausgegangen wird von einer Alterskohorte von etwa 400.000, die befragt werden können. Außer, dass sie nach ihren Interessen und Fähigkeiten befragt werden sollen, ist vom Inhalt nichts bekannt. Der neue freiwillige Wehrdienst soll ein Jahr dauern. Gerechnet wird mit einem Rückläufer von 40.000 bis 50.000 Antworten. Davon sollen dann etwa 5.000 – „wir wollen die Besten und Motiviertesten“ so Pistorius – zum Dienst einberufen werden. Schon nach bekannt werden der Vorstellungen des Ministers kam Kritik von verschiedenen Seiten. Selbst die eigenen Parteigenossen und die Ampelkoalitionäre waren skeptisch im Hinblick auf Umsetzung und Erfolgsaussichten.
Warum ist das Thema Wehrpflicht wieder aktuell? Deutschlands Sicherheitslage hat sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 massiv verändert. Die von Bundeskanzler Olav Scholz kurz nach dem Überfall ausgerufene Zeitenwende soll Deutschland verteidigungsfähig machen. Bündnis- und Landesverteidigung haben einen anderen Stellenwert bekommen. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll dazu beitragen. Diese Schulden sind von der Kreditobergrenze der Schuldenregel ausgenommen. Personal für die Bundeswehr wird dringend gebraucht und ihre Ausstattung und Ausrüstung müssen verbessert werden.
Blicken wir einmal auf die jetzige Personalsituation und schauen zurück in die Geschichte der Wehrpflicht. In der Bundeswehr dienen 181.000 Soldaten und sie beschäftigt 82.000 Zivilbedienstete. Bis 2027 soll eine Stärke von 203.000 Soldaten und Soldatinnen erreicht werden. Was der NATO an Personal zugesagt wurde, liegt annähernd bei 240.000 Soldaten. Für den Verteidigungsfall sprach Pistorius von 460.000 Soldaten. Wie das bewerkstelligt werden soll, ist völlig unklar. Bevor weiter im Nebel gestochert wird, zurück zu den Anfängen der Bundeswehr bevor die Wehrpflicht 55 Jahre nach ihrer Einführung ausgesetzt wurde.
Es war In den Morgenstunden gegen 4 Uhr des 7. Juli 1956 als im Deutschen Bundestag eine Abstimmung beendet und das Ergebnis bekannt gegeben wurde. Mit 269 gegen 166 bei 20 Enthaltungen, hatte die Mehrheit der Abgeordneten für die Einführung der Wehrpflicht gestimmt. Mit dieser Entscheidung war eine lange und erbitterte Auseinandersetzung um das Für und Wider der Wehrform entschieden worden. Auch der Bundesrat stimmte mit 21 gegen 17 dem Wehrpflichtgesetz zu. Dagegen stimmten Bayern, Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Berlin enthielt sich. Am 24. Juli 1956 wurde es im Bundesgesetzblatt Nr. 36 verkündet. Über Dienstzeitdauer wurde noch nicht entschieden. Erst im September, nach Auseinandersetzungen mit der Wirtschaft, die eine möglichst kurze Dienstzeit wollte, wurde gegen den Willen der militärischen Führung die Dienstzeit auf 12 Monate festgelegt.
Die Wiederbewaffnungsdebatte der 50er Jahre hatte die Gesellschaft in zwei Lager gespalten. Sollte der Verteidigungsbeitrag nur mit Freiwilligen oder auch Wehrpflichtigen erfolgen? Der erste Bundespräsident Theodor Heus bezeichnete die Wehrpflicht „als legitimes Kind der Demokratie“. Das sahen viele Bürger und Abgeordnete anders, konnten sich aber mit ihren Argumenten nicht durchsetzen. Um überhaupt Streitkräfte aufzustellen, mussten die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden. Im Grundgesetz (GG) von 1949 war dazu nichts aufgenommen worden. Niederschlag hatte nur das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und der Kriegswaffenkontrolle, die Möglichkeit zur Teilnahme an einem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sowie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Im Laufe der parlamentarischen Behandlung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) wurde am 26. Februar 1954 in 2. Und 3. Lesung das Gesetz zur Änderung des GG verabschiedet, das die Wehrhoheit des Bundes begründet. Als die EVG dann im August 1954 scheiterte – die französische Nationalversammlung stimmte nicht zu – war der Weg für nationale Streitkräfte frei. Ein Jahr später, am 15./16. Juli 1955, verabschiedete der Bundestag dann das „Freiwilligengesetz, das die Einstellung von 6000 Freiwilligen für die neu aufzustellenden Streitkräfte genehmigte.
Am 21. Januar begann für rund 100.000 Männer, die nach dem 30. Juni 1937 geboren wurden, die Musterung in den provisorisch eingerichteten Kreiswehrersatzämtern (KWEA). Vorgeprescht war die Wehrverwaltung in Baden-Württemberg. Hier wurden schon drei Tage früher, am 18 Januar, die ersten Wehrpflichtigen durch das KWEA Leonberg gemustert. Diese fand im Gasthaus „Zur Sonne“ in Herrenberg statt. „Durch diese Vorverlegung wurde den Leitern und Musterungsärzten der anderen KWEA im Wehrbereich V Gelegenheit gegeben, den Ablauf des Musterungsverfahrens in der Praxis kennen zulernen“, ist in der Chronik des KWEA Stuttgart zu lesen. Rund 10.000 für tauglich befundene Gemusterte erhielten den Einberufungsbescheid und rückten am 1. April 1957 in die Kasernen ein. Sie wurden von den Ausbildern, ehemaligen Wehrmachts-, Bundesgrenzschutz-, Polizeiangehörigen oder auch Angehörigen der allliierten Dienstgruppen oder den seit Januar 1956 dienenden Freiwilligen in Empfang genommen.
Verteidigungsminister Volker Rühe, nimmt den vierzigsten Jahrestages der Einführung der Wehrpflicht am 7. Juli 1996 zum Anlass eines Tagesbefehls an die Truppe. Hier heißt es: „Wehrpflicht bleibt für Deutschland unverzichtbar – heute und in Zukunft“. [….] „Die Wehrpflicht prägt die Führungskultur in unserer Armee in der Demokratie“. […] Der Tagesbefehl endet mit den Worten „Wehrdienst ist Ehrendienst für unser Land“.
Nach 55 Jahren wird die Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 ausgesetzt. Bis zur letzten „freiwilligen“ Einberufung im Oktober 2011 haben mehr als acht Millionen junge Männer ihre Dienstpflicht erfüllt. An Stelle des Grundwehrdienstes ist ein freiwilliger Wehrdienst von sechs bis zu 23 Monaten getreten, der Männer und Frauen offensteht. Die ersten sechs Monate sind Probezeit, in der beide Parteien die Zusammenarbeit beenden können. Den Zivildienst ersetzt ein sechs bis 18-monatiger Bundesfreiwilligendienst.