Nun ist es also soweit. Die USA und mit ihr auch Deutschland haben entschieden, den Afghanistan-Einsatz noch in diesem Sommer zu beenden. Es hat lange, sehr lange gedauert bis zu diesem Entschluss – genau genommen rund 20 Jahre.
Um es vorab klarzustellen: Es gab nach den unfassbaren Anschlägen der AlQaida auf New York und Washington wohl kaum eine echte Alternative zu dem Ansatz, dem internationalen Terrorismus an seinem damaligen Ursprung militärisch zu begegnen – und dies in sichtbarer Solidarität mit den USA. Immerhin wurde 2001 zum ersten Mal in der Nato-Geschichte der Bündnisfall ausgerufen. Der vieldiskutierte Satz des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt, steht für diese Überzeugung.
Die Operation war anfangs durchaus erfolgreich. Die AlQaida-Kämpfer wurden auf afghanischem Boden rasch zerschlagen oder zum Ausweichen nach Pakistan gezwungen. An dieser Stelle hätte es grundsätzlich bereits eine Ausstiegsoption gegeben, also salopp so formuliert: Wir gehen jetzt mit unseren Truppen, aber wir kommen wieder, falls von Afghanistan aus erneut ein Terrorangriff auf die internationale Gemeinschaft geführt zu werden droht. Nun, ein solcher Ansatz wurde nicht verfolgt, wofür es durchaus gewichtige Gründe gab. Stattdessen versuchten wir uns an dem großen Wurf: In Afghanistan eine stabile staatliche Ordnung im Sinne menschenrechtlicher Grundlagen zu fördern – und diesen Prozess robust abzusichern. Die UN-mandatierten Missionen ISAF (International Security Assistance Force) und ab 2014 dann RS (Resolute Support) standen und stehen dafür, dies mit einer Stärke (2012) von teilweise bis zu 130.000 Soldaten.
Der Preis war und ist enorm. Die westliche Allianz hat insgesamt rund 3.600 Gefallene zu beklagen. Mit Blick auf die afghanische Zivilbevölkerung spricht man bisweilen von 160.000 Kriegstoten und Millionen an Flüchtlingen und Binnenvertriebenen. Aber auch die nicht-menschlichen Kosten dieses Engagements waren und sind beträchtlich. Sie lassen sich kaum seriös beziffern. Allein im Ressort des BMVg wurde vor wenigen Tagen eine Summe von mehr als 12 Mrd Euro angegeben. Aber auch das ist wohl nur ein Bruchteil der Aufwendungen, denn hinzurechnen muss man die sog. Opportunitätskosten – also nicht zuletzt die Verluste an zentralen Fähigkeiten zur Bündnisverteidigung, die sich aus der Fokussierung auf Afghanistan ergeben haben. Die heute beklagenswerten Defizite der Truppe auf diesem Gebiet lassen sich zu einem wesentlichen Teil auch darauf zurückführen.
Unter dem Strich stellt sich darüber hinaus die Frage: Was bedeutet der angekündigte Rückzug aus Afghanistan für dessen Bevölkerung und vielleicht sogar für die ganze Region rundherum? Entsprechen wir unserer Verantwortung für das Land – eine Verantwortung, die Jahr für Jahr im Zuge unseres Engagements de facto gewachsen ist? Das lässt sich vorab wohl schwer beantworten. Aber ganz pragmatisch: Ein enormes Risiko, nicht zuletzt auch mit Blick auf erneute Verfolgungen und Flüchtlingsbewegungen, lässt sich wohl nicht von der Hand weisen.
Vor diesem Hintergrund drängt sich jetzt, kurz vor dem endgültigen Ende unseres militärischen Engagements, die Frage nach einer ehrlichen Bilanz auf. Die Zeit ist einfach überreif für eine so schonungslose wie ungeschönte Ergebnisanalyse. Auch wenn dies unangenehm ist. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen. Niemand war und ist Hellseher, und Lösungen ohne Nachteile sind in der Praxis extrem selten. Aber eine zentrale Verpflichtung lautet: Wir alle müssen aus den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahrzehnte konsequente Schlüsse mit Blick auf die Zukunft ziehen. Denn leider ist Fakt: Failed states wie Afghanistan, deren innere Verfasstheit nicht den Mindestanforderungen der Völkergemeinschaft genügt und die obendrein eine Quelle der Gefahr für die regionale oder gar globale Sicherheit darstellen, gibt es durchaus sehr viele. Es bleibt also eine Daueraufgabe zu entscheiden, wie man mit dieser Herausforderung sinnvoll umgeht.
Anders ausgedrückt: Wenn wir Lehren für militärische Kriseneinsätze im Allgemeinen und für eine Beteiligung der deutschen Streitkräfte im Besonderen ableiten wollen, dann muss das rasch geschehen. Denn die Erfahrung zeigt, wie schnell Wichtiges in Vergessenheit gerät, wenn der Alltag neue Herausforderungen stellt. Wir brauchen also eine breite, offene und auch gesellschaftlich geführte Debatte über Sinn und Ergebnis des 20-jährigen Afghanistaneinsatzes, um mit Blick nach vorn erstens zu aussagekräftigen Erkenntnissen zu gelangen und zweitens diese in der Öffentlichkeit überzeugend zu vertreten. In den kommenden Wochen und Monaten soll auch dieses Forum dazu dienen, einige der wichtigsten Aspekte aufzugreifen. Heute machen wir nur den Anfang.
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