Das ist insgesamt eine Entwicklung auf leisen Pfoten, die bereits mit flüchtigem Blick auf die Karte einem Erdrutsch gleichkommt. Wer wundert sich da, wenn Russland mit seinem Präsidenten Putin spätestens seit 20 Jahren alles andere als erfreut ist? Die Tatsache, dass alle die genannten Staaten aus eigener, freier Entscheidung sich unter den Schutzschirm der Nato begeben haben, ändert da wenig daran. Im Gegenteil, sie macht die Demütigung nur noch schmerzhafter. Das ist der Hintergrund, wenn Putin nun ultimativ und mit unverhohlener Drohgebärde nicht nur ein Ende, sondern sogar eine völlige Umkehrung dieses Prozesses verlangt.
Er begründet das mit russischen Sicherheitsinteressen. Richtig ist daran, dass einzelne Erweiterungsschritte der Nato in der Tat alte Krisen verstärken und neue auslösen können – und zwar indem Russland sie zum Anlass für robuste Reaktionen nimmt, aus welchen Gründen auch immer. Oder anders ausgedrückt: Weil Putin freie Entscheidungen von souveränen Staaten nicht so ohne weiteres akzeptieren möchte, treibt er den Preis für solche Entwicklungen nach oben. Aber steht dahinter wirklich eine Sorge um reale Sicherheitsinteressen des russischen Staates, wie behauptet? Warum soll eine Art Pufferzone vitale Gefahren abwehren, und welche Gefahren sollen das eigentlich sein? Ist Russland in seiner Souveränität wirklich selbst bedroht? Der neutrale Beobachter stellt hier ernüchtert fest: Die Perzeptionen aller Seiten decken sich offenbar in keiner Weise.
Beim Versuch einer tieferen Antwort stößt man vielleicht auch auf folgende Vermutung: Das Land – oder besser: die herrschende Elite des Landes – ist sich seiner inneren Stabilität nicht so ganz sicher. Wenn an dieser Analyse etwas dran ist, dann lässt sich eigentlich nur eine einzige profane Empfehlung formulieren: Die eigene Außen- wie auch Innenpolitik so gestalten, dass sie für Partner endlich attraktiv wird – und nebenbei auch für die eigene Bevölkerung. Erst mit einer Revitalisierung des Vertrauens lässt sich der oben beschriebene Trend aufhalten. Das wäre die mit Abstand beste Sicherheitsgarantie für alle, insbesondere für Russland selbst. Erst dann sind im übrigen auch die Grundlagen für eine tragfähige europäische Friedensordnung gegeben. Die erkennbare Flucht der östlichen europäischen Länder unter den Schirm der Nato ist ja schließlich kein erzwungener, sondern ein dringlich verfolgter Wunsch souveräner Staaten. Das sollte zu denken geben.
Nun beziehen sich alle diese Erkenntnisse nicht nur auf den Kreis des früheren Ostblocks, sondern auch auf Staaten, die sich traditionell bisher neutral verhalten haben. Immer mehr setzt sich dort die These durch, der Begriff „Neutralität“ und mit ihm das Lagerdenken könnten seit Ende des Ost-West-Konflikts ausgedient haben. Zugleich verbreitet sich die Erkenntnis, dass sich Europa auf Dauer nur durch einen engen inneren Zusammenhalt auf allen politischen und militärischen Feldern angemessen positionieren kann, und dass es nach wie vor auf die enge transatlantische Partnerschaft vital angewiesen ist.
In Schweden und Finnland wird diese Diskussion derzeit wieder überraschend intensiv geführt – mit einem Ausgang, der noch nie so offen war wie bisher. Dort haben die Drohgebärden Russlands zu einem Überdenken der bisherigen außenpolitischen Positionierung geführt. Denn die Forderungen Putins, die er im Falle einer Ablehnung unverhohlen auch militärisch zu untermauern droht, berühren nun tatsächlich reale Sicherheitsinteressen dieser beiden Länder. Die derzeitige Lageentwicklung wird, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, auch dort als „sicherheitspolitischer Sprengstoff“ wahrgenommen. In beiden Ländern betonen alle Verantwortlichen jedenfalls strikt, dass es natürlich ihrem Handlungsspielraum und ihrer Entscheidungsfreiheit entspricht, nicht nur eine Nato-Mitgliedschaft beantragen zu dürfen, sondern auch im Vorfeld mit der Nato in Angelegenheiten gemeinsamer Sicherheitsvorkehrungen zu kooperieren. Eine a-priori-Knebelung mittels eines Veto-Rechts Dritter käme also nicht in Betracht. Sie wäre in keinem Fall vereinbar mit den Grundsätzen einer völkerrechtlich verbrieften Souveränität.
Ein Blick auf die Karte erhellt die Sorgen. Schweden fürchtet um seine Hoheitsgewässer und insbesondere die Insel Gotland. Finnland besitzt neben einschlägigen historischen Erfahrungen eine Landgrenze mit Russland, die mehr als 1.300 km beträgt und nur schwer zu überwachen ist. Beiden Ländern kommt damit eine enorme geostrategische Bedeutung zu, vor allem mit Blick auf die Operationsfreiheit von Flotten aller Seiten in der Ostsee – welche in einem neuerlichen Konflikt ihren nach 1990 erhofften Status als „Meer des Friedens“ wohl endgültig verlieren würde. Beide Länder pflegen überdies traditionell engste Beziehungen zu ihren baltischen Nachbarn, die sich als ehemalige Sowjetstaaten einer besonders großen Gefahr restaurativer russischer Ambitionen ausgesetzt sehen. Beide – Finnland wie Schweden – sind damit unmittelbar betroffen, falls sich die militärische Lage in Europa weiter zuspitzen sollte. Neutralität und Bündnisfreiheit sind in einem solchen Fall eher keine tragfähigen Sicherheitsgarantien, so viel scheint gewiss.
Es erstaunt schon, wenn eine sicherheitspolitische Debatte, die vielerorts seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als unnötig und substanzlos erachtet wurde, nun wieder eine solche Fahrt aufnimmt – und das in Ländern wie Finnland und Schweden, die nicht gerade als außenpolitische Lautsprecher oder gar Hasardeure bekannt sind. Bei der Suche nach Ursachen kommt man an dem Abschreckungsbeispiel Ukraine und Krim nicht vorbei. Seit 2014 ertönt aus dieser Richtung ein unüberhörbarer Weckruf, der in den letzten Monaten wieder besonders schrill klingt und jedes Vertrauen untergräbt. Was muss also geschehen, wer muss seine Politik wie überdenken, um eine Rückkehr zu alten Szenarien, die wir in Europa doch eigentlich längst überwunden zu haben glaubten, zu verhindern?
Kommentare (1)
Die NATO ist zwar kein Staat, aber welche Merkmale und Eigenschaften nach dem Völkerrecht müssten hinzutreten, um sie als neutrale Institution anzusprechen?