Die schrecklichen Bilder von Mitte Juli aus den Tälern der Ahr, der Erft, der Swist und weiterer eher kleiner Flüsse wühlen auf. Fast 200 Menschen haben durch das plötzliche Hochwasser ihr Leben verloren, unzählige weitere sehen sich ihrer beruflichen und persönlichen Existenz beraubt. Die Sachschäden betragen mehrere Milliarden Euro, so viel steht wohl jetzt schon fest. Man fragt sich: Wie konnte das geschehen? Und: Handelt es sich um eines der „Jahrhundertereignisse“ – die ja dem Begriff nach in der Regel nur einmal in 100 Jahren eintreten? Oder müssen wir damit rechnen, schon in Kürze erneut Ähnliches und vielleicht sogar noch Schlimmeres zu erleben? Diese Antworten sind keineswegs nur semantischer Natur. Denn sie bilden eine wesentliche Grundlage für politischen Handlungsdruck mit Blick nach vorn, also auch jenseits der dringend nötigen Maßnahmen zur verzweifelten Bewältigung bereits eingetretener Verluste und Schäden.
Kaum Zweifel gibt es an der Erkenntnis, wie sehr auch diese jüngste Katastrophe mit den dynamischen Folgen des Klimawandels zusammenhängt. Das Wissen um klimabedingte, nicht zuletzt durch menschlich verursachtes Freisetzen von Treibhausgasen verursachte komplexe Prozesse ist heute Allgemeingut und wird allenfalls noch von Verschwörungstheoretikern negiert. Zu den kritischen Symptomen zählen unter anderem auch Extremwetterlagen, die sich mit der zunehmenden Erwärmung der Erdatmosphäre häufen, dies auch für den Laien deutlich erkennbar. Und sie drohen in ihrer Intensität immer heftiger auszufallen – sei es in Form von extremen Trockenperioden, von Starkregen und Überschwemmungen, von Stürmen oder anderer Bedrohungen für Mensch und Natur. Was uns in Mitteleuropa dabei langsam dämmert: Solche Ereignisse holen auch uns in unserer eigentlich begünstigten geographischen Lage zunehmend ein. Auch wir sind offenbar keineswegs mehr so sicher, wie wir bisher glaubten. Mit anderen Worten: Frequenz und Stärke von Naturkatastrophen wie der jüngsten nehmen offenbar unaufhaltsam zu. Überall. Von einer Abfolge auf der Skala von „Jahrhunderten“ und von weitgehend nicht betroffenen Regionen kann wohl eher nicht mehr die Rede sein. Nein, die Dynamik in Breite und Tiefe ist es, die aufrüttelt.
Es ist klar: Dieser mehr als ernüchternde Befund zwingt zu konsequenter, ungeschönter Analyse der eigenen gestalterischen Politik. Und leider – so unbequem das auch sein mag – führt dabei kein Weg daran vorbei, wieder mehr als bisher in sog. Worst-Case-Szenarien zu denken. Dies betrifft mit Blick auf den Klimawandel grundsätzlich zwei große Bereiche, die sich keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern beide ein Handeln mit höchster Priorität unausweichlich machen: Zum einen die Frage, wie generell der Klimawandel auf der Erde gebremst werden kann. Und zum anderen die Aufgabe, besser mit seinen Folgen fertig zu werden, sich also nachhaltig auf zu erwartende Naturkatastrophen vorzubereiten. Klimapolitik und Klimaanpassungspolitik sind damit kein Gegensatz, sondern gehen Hand in Hand. Das eine ist extrem langfristig und global orientiert, das andere eher kurzfristig, regional und lokal.
Ereignisse wie die jüngsten machen sehr schmerzlich bewusst, wie groß die Defizite in beiden Aufgaben sind – weltweit, aber durchaus auch in Deutschland. Sie weisen auf Baustellen hin, die in einer breit angelegten, vernetzten Sicherheitspolitik sehr weit oben auf der Tagesordnung stehen bzw. stehen müssten. Und sie zwingen zu einer sorgfältigen Analyse, ob die Vorsorgemaßnahmen ausreichend und zweckmäßig ausgerichtet sind. Gerade im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz dürfte es dabei angebracht sein, die geltenden Instrumente, Prozesse und Zuordnungen immer wieder kritisch zu überprüfen. Auch in Deutschland. Allzu vieles ist hier seit dem Ende des Kalten Krieges verloren gegangen und trotz aller partiellen Anstrengungen nicht wieder auf einen hinreichenden Stand gebracht worden.
Einer der Kernaspekte, die sich immer wieder einer kritischen Betrachtung stellen müssen, betrifft dabei die geltende Regelung der Verantwortung. Welche Rolle nehmen die Kommunen und Landkreise, welche die Länder und welche der Bund ein – und wie können sie dieser Rolle sinnvoll gerecht werden? Diese Frage zielt nicht zuletzt auf das grundlegende Dilemma zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung: Einerseits sollten Katastrophen dort bewältigt werden, wo sie auftreten. Denn kurz gesagt, gewährleistet dieses Prinzip einen hohen aktuellen Informationsstand und damit so schnelles wie zielgerichtetes Handeln vor Ort in unmittelbarer Betroffenheit. Andererseits aber verfügen die Kommunen und Landkreise häufig weder über das Fachwissen noch über einschlägige Mittel, um mit den diversen Katastrophenlagen wirklich fertig zu werden – ganz abgesehen von der sehr unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaft, sich vorab mit der so unangenehmen und auch kostenträchtigen Aufgabe der Katastrophenvorsorge in aller Konsequenz zu befassen. Allein die Beobachtung, ob, wo und wie einschlägige Szenarien in harten Übungen erprobt und aus den Übungserkenntnissen ehrliche Folgerungen gezogen werden, zeigt einen Teil des Problems auf.
Meine vorsichtige These: Die gegebene Verteilung von Kompetenz und Verantwortung macht unter dem Strich durchaus Sinn. Voraussetzung ist allerdings, dass eine enge Vernetzung zwischen Kommunen, Landkreisen, Ländern und dem Bund nicht nur in der Theorie geregelt, sondern auch intensiv praktiziert wird – in vorbereitenden Übungen wie auch im „Ernstfall“. Kritisch (und vor allem selbstkritisch) überprüft werden muss daher immer wieder, ob das Gesamtsystem zielgerichtet, ausgewogen und auch unter hohem Zeitdruck aufeinander eingespielt ist. Hier scheint es so, als gäbe es noch eine Menge zu verbessern. Freilich müssen das alle Seiten auch wollen. Weckrufe gibt es nun eigentlich zur Genüge.