Man könnte meinen, das sei eine Episode mit seinerzeit zwar brandgefährlichem Verlauf, aber mit einem letztlich guten Ende im Widerstand gegen unverfrorene Brandstifter und deren willige Handlanger. Leider ist die Geschichte aber nicht zu Ende. Denn fast noch mehr als die damalige Realität verblüfft der ungebremste narrative Umgang damit durch die weit überwiegende Mehrheit der einst so glorreichen Republikanischen Partei – von der einfachen Wählerschaft bis hin zu den gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten im Kongress. Es sieht ganz so aus, als sei die Strategie alternativer Fakten und das unverfrorene Beharren auf diesen ein erfolgreiches Mittel, um enge Gefolgschaft zu erzwingen. Die Täter des Sturms auf das Kapitol lassen sich heute in einem erschreckend großen Milieu gar als Helden feiern. Als Außenstehender reibt man sich da schon die Augen und fragt sich: Was ist bloß aus dem großen Vorbild USA geworden?
Und es kommt noch schlimmer: Wie groß war anfangs die Euphorie, als trotz aller Versuche Trumps, seine Abwahl mit absurden Mitteln zu verhindern, Biden letztlich als neuer Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde. Der Weg zurück zur Versöhnung sowohl inneramerikanisch als auch international schien offen, die Scherben bereit für den Besen. Doch jetzt – nach Ablauf eines vollen Jahres – steht fest, wie extrem schwer diese Aufgabe ist. Unter anderem gewinnen zwei keineswegs überraschende Thesen an Signifikanz:
- Erstens, die USA verfolgen mit oder ohne Trump weiterhin ihre eigenen Interessen. Das ist im Prinzip weder verwunderlich noch verwerflich. Aber diese Interessen decken sich – und hier liegt das eigentliche Problem – offenbar immer weniger mit denen der europäischen Verbündeten. Wir driften auseinander, was die Analyse einiger globaler Risiken, den Umgang mit diesen und dabei die Bereitschaft zu gegenseitiger Rücksichtnahme betrifft.
- Und zweitens: Auch Biden kann keine Wunder bewirken. Seine Führungskraft ist sehr viel limitierter, seine Ambition begrenzter, seine Gefolgschaft brüchiger als wir uns erhofft haben. Sein vordringliches Ziel richtet sich darauf, die amerikanischen Wähler von seiner Politik zu überzeugen und fragile Mehrheiten zu sichern. Sein Fokus liegt also auf der Innenpolitik. Da bleibt fast zwangsläufig so manches von dem auf der Strecke, was uns Europäern wichtig ist.
Was bedeutet das alles für Europa mit Blick auf 2022 und danach? Nun, auf den kurzen Nenner künftiger Transatlantikpolitik gebracht: Es ist allen Seiten am meisten gedient, wenn ein Rückfall Amerikas in die Trump’sche Politik verhindert wird. In der Praxis verlangt das einen Balanceakt zwischen dem Verständnis der diversen Positionen Bidens und dem Verfolgen eigener europäischer Interessen. Konkret zeigt sich das auf vielen aktuellen Baustellen: Der Umgang mit China und Russland, die Energieversorgung etwa durch das Projekt Nord Stream 2, die nukleare Abrüstung und Eindämmung weiterer Verbreitung, das Rennen um neue technologische Durchbrüche auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz oder in der Weltraumforschung, dem konkreten Weg in Richtung besserer Klimaverträglichkeit, und so weiter.
Wenn die deutsche Außenministerin bei ihrem ersten Besuch in Washington davon spricht, Europa habe keinen stärkeren Partner als die USA, dann hat sie damit völlig Recht. Eigentlich verwundert es, wenn das auch bei uns immer wieder neu betont werden muss. Es zeigt aber auch, wie fragil das transatlantische Verhältnis inzwischen geworden ist. Es gibt (leider) keine unumstößlichen Gewissheiten mehr. Interessenausgleich, Solidarität und gegenseitige Verlässlichkeit sind eben keine Naturgesetze, sondern müssen immer neu erarbeitet werden. Das ist schon heute so, und noch mehr drängt sich der Gedanke auf, wenn man an das durchaus reale Schreckgespenst einer etwaigen Wiederwahl Trumps oder eines seiner Jünger in knapp 3 Jahren denkt. Auch und gerade auf diesen Fall müssen wir uns einstellen, so bitter das klingt. Und zwar nicht nur dann, wenn das Gespenst an unseren Fenstern rüttelt, sondern mit längerfristigem Vorlauf und einer schlüssigen Strategie.
Genau das erzwingt von uns Europäern primär einen offenen sicherheitspolitischen Kassensturz. Was müssen wir leisten, was leisten wir bereits, was leisten wir nicht? Falls diese so simple wie unbequeme Analyse die erwartbaren Defizite im Detail bestätigt, dann liegt es in unserem ureigenen Interesse, sie entschlossen abzubauen. Ob man das nun „strategische Autonomie“ nennt oder nicht, ist zweitrangig. Primär kommt es darauf an, sehr viel mehr als bisher gemeinsame europäische Entschlossenheit zu entwickeln und damit endlich sicherheitspolitisch erwachsen zu werden. Gelingt das (und zwar nicht nur verbal, sondern substantiell), so dient es auch dem künftigen transatlantischen Verhältnis und den Antworten auf die globalen Herausforderungen der Zukunft.
Die Zeit drängt. Jedes Versäumnis oder gar Versagen führt uns unweigerlich auf ein Abstellgleis in der globalen Entwicklung. Der Blick auf Amerika und seine vage Zukunft dient uns dabei als Weckruf, den wir tunlichst nicht überhören sollten. Das ist eine der zentralen sicherheitspolitischen Botschaften zu Beginn des neuen Jahres.
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Kommentare (3)
Gerade auch Europa muss für dieses wenig erfreuliche Szenario rechtzeitig strategische Antworten finden.