Noch vor wenigen Wochen oder gar Tagen schien die allgemeine Entwicklung im globalen Machtgefüge recht stabil und weitgehend vorhersagbar. Die geostrategischen Rollen – zugegebenermaßen etwas holzschnittartig beschrieben – schienen auf absehbare Zeit nicht grundlegend in Frage gestellt: Die USA unverändert als die alleinige Supermacht, deren Status freilich langsam zu bröckeln droht. China als der große und auch einzig ernstzunehmende Rivale mit der Erwartung, früher oder später aufzuschließen oder in Teilen gar zu überholen. Russland als Möchte-gern-Supermacht, deren Kraft sich neben „altem Glanz“ nahezu ausschließlich aus Militär (was mitunter ein wenig anachronistisch scheint) und Rohstoffen speist, dessen globaler Einfluss aber insgesamt sehr überschaubar bleibt. Und Europa? Ja Europa: Wirtschaftlich halbwegs auf Augenhöhe, aber strategisch doch allzu oft uneinig und damit leider auch viel zu bedeutungslos - nach dem Brexit ohnehin.
Das war gestern. Nun braucht man keine prophetischen Künste, um zu behaupten: Die globale Balance wird im Zuge der Corona-Krise in mancherlei Hinsicht neu zu definieren sein. Alle müssen sich früher oder später neu positionieren – gesellschaftlich, ökonomisch und strategisch. Die Gewichte verschieben sich, die Rollen werden neu verteilt. Die These ist vielleicht nicht ganz abwegig: Wer die Folgen der Pandemie am schnellsten und nachhaltigsten bewältigen kann, dem gehört die globale Zukunft. In jedem Fall könnten wir an einer historischen Wende stehen, die man in seiner Bedeutung durchaus mit dem Beginn der Nachkriegszeit vergleichen kann.
Es lohnt sich also bereits jetzt, einen vorsichtigen Blick nach vorn zu richten, auch wenn das nur ausgesprochen vage sein kann. Wird die Krise die Ära der USA als alleinige globale Supermacht beenden oder zumindest deren Ende rapide beschleunigen? Gilt China mit seinem rigiden Gesellschaftssystem und seinem ökonomischen Potenzial als der große Gewinner – obwohl die Corona-Krise ja ziemlich sicher von ihm ausging? Kann Russland die derzeitige Schwäche des Westens und insbesondere Europas, die durch das Corona-Virus dramatisch verstärkt wird, nutzen. Oder gerät es selbst noch stärker in den Abwärtsstrudel? Stürzen die Schwellen- und Entwicklungsländer – trotz ihres niedrigen Altersdurchschnitts, was ihnen einiges an Resistenz gibt – infolge ihrer maroden Gesundheitssysteme und ihrer fragilen ökonomischen Grundlagen nun noch weiter ins Elend? Und was passiert mit der europäischen Idee? Ist die Krise eine Art Weckruf, oder droht die EU angesichts der immensen Lasten, mangelnder Solidarität und auch gravierender Meinungsunterschiede über den „besten Weg“ in sich zusammen zu fallen?
Natürlich ist das alles noch Lesen im Kaffeesatz. Natürlich geht es jetzt erst mal vordringlich darum, erfolgreiches Krisenmanagement „auf Sicht“ zu betreiben. Trotzdem sollten wir uns so frühzeitig wie nur möglich darüber klar werden, in welche Richtung der globale Zug fährt oder fahren könnte. Wir sollten also einige Weichen identifizieren, die es besonnen zu stellen gilt. Gute Ideen sind hier herzlich willkommen!