Der Bergkarabach-Konflikt im Spannungsfeld von Interessen (1991-2015)

Energie- und geopolitische Akteure im Südkaukasus Rezension von Peter E. Uhde

Der vereinbarte Waffenstillstand beendet den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Die Frage ist nicht von der Hand zu weisen wie lange die Vereinbarung in diesem Dauerkonflikt halten wird. Um die Hintergründe dieses „frozen conflict“ besser zu verstehen, lohnt ein Blick in die Dissertation: „Energie- und geopolitische Akteure im Südkaukasus“ von Andranik Aslanyan. Dieser analysiert in seiner Doktorarbeit den Bergkarabach-Konflikt und zeigt dabei das Spannungsfeld auf, worum es den Beteiligten vorder- und hintergründig geht.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion entsteht im Gebiet zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer ein Machtvakuum, von dem besonders die drei ehemaligen Sozialistischen Sowjetrepubliken (SSR) im Südkaukasus Armenien, Aserbaidschan und Georgien betroffen sind. Ein besonderer Brennpunkt ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. 1923 wird Bergkarabach als autonomes Gebiet in die Aserbaidschanische SSR eingegliedert. Etwa 95 Prozent der dort lebenden Bewohner sind aber Armenier, so dass die Grundlage für den sich entwickelten Konflikt schon damals gelegt wird.

In den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen 1988 bis 1994 kommen auf beiden Seiten mehr als 20.000 Menschen ums Leben. Die Vertreibung von über einer Million Menschen sind eine weitere Folge. Seit 1992 versucht die sogenannt Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der Zusammensetzung Russland, USA und Frankreich, mäßigend und friedensstiftend tätig zu werden. In der Europäischen Union (EU) findet das Geschehen im Südkaukasus keine besondere Beachtung, weil sie „in der Konfliktmediation als Institution nicht vertreten“ ist. Russland spielt hingegen eine entscheidende Rolle wie der Waffenstillstand und der Einsatz von „Friedenstruppen“ gerade zeigt. Aus einem Zitat des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe ( FR v. 07.03.2001) ist die komplexe geopolitische Situation abzulesen, die sich bis heute nicht geändert hat: „Die Kollision unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Interessen hat zur Bildung strategischer Achsen quer durch den Kaukasus geführt: Die vertikale Achse verläuft von Russland über Armenien [Bergkarabach] nach Iran, die horizontale Achse von Zentralasien über Aserbaidschan, die Türkei bzw. die Ukraine in den Westen. Der Verlauf der Achse ist teilweise historisch, teilweise pragmatisch, vor allem jedoch machtpolitisch bedingt.“

Im Reigen der Akteure dürfen die USA, die Türkei und eingeschränkt die EU nicht übersehen werden. Zu Beginn seiner Arbeit hat der Verfasser Fragen formuliert, die er im Buch behandelt. Welche Interessen haben die USA, Russland, Iran, Türkei und auch die EU im Südkaukasus und inwiefern beeinflussen diese ihre Handlungsweise im gegenwärtigen Zustand des Bergkarabach-Konflikt. Des Weiteren ist zu beantworten, ob die externen Akteure an einer Konfliktbeilegung interessiert sind „oder wird der Konflikt für eigene Interessen instrumentalisiert?“

Die Methode der qualitativen Fallstudie, in der geopolitische, politik-wissenschaftliche, wirtschaftspolitische und juristische Aspekte Berücksichtigung finden, ist die Grundlage der Arbeit. Englische, russische und armenische Textquellen, hat der Autor übersetzt, 1228 Fußnoten sind auf den XXII/407 Seiten zu finden. Zu Beginn weist er den sicherheitspolitisch interessierten Leser auf ein Manko hin: „Die Sicherheitspolitik von im Südkaukasus aktiven Akteuren erschließt sich nicht immer aus den hierzu öffentlich zugänglichen Sicherheitsdoktrinen. Deshalb wurde auf Sekundärliteratur zurückgegriffen, die auf `versteckte Agenden` hinweist.“ In der Einleitung werden dann noch die theoretische Grundlage, der Aufbau der Arbeit und der Forschungsstand erläutert.

Im zweiten Kapitel geht es um Ursachen und Auswirkungen der Konfliktgeschichte. Die Geografie des Südkaukasus und Bergkarabachs stehen hier im Mittelpunkt. Wie sieht Armenien, wie sieht Aserbaidschan Bergkarabach und warum schwelt der Streit um die Region seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Autonomie von 1921 bis 1987, der friedliche Widerstand bis 1992 und der folgende Krieg mit dem „fristlosen Waffenstillstand“ vom 12. Mai 1994 folgen.

Um dem vorausgegangenen folgen zu können, nimmt der Autor im dritten Kapitel die postsowjetische Entwicklung bis 2015 ins Blickfeld. Beginnend mit Armenien, dann Aserbaidschan und schließlich Bergkarabach, betrachtet er diese jeweils unter den Gesichtspunkten der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Demografie und ihrer ethnischen Minderheiten.  Auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion leben etwa 30 Millionen Menschen in etwa 60 verschiedenen Völker-gemeinschaften, die indogermanische, kaukasische sowie altaische Sprachen sprechen. Hinzu kommt die bunte religiöse Vielfalt.

Bergkarabach hat eine Fläche von etwa 11.000 qkm, hier wohnen etwa 140.000 Menschen. Der Großteil der Bevölkerung gehört zur Armenischen Apostolischen Kirche. Am 2. September 1991 hat es sich als Republik ausgerufen. Völkerrechtlich ist dieses Staatsgebilde nicht anerkannt. Wirtschaftlich schwach und abhängig von Armenien und Transferleistungen der armenischen Diaspora, leben nach Schätzungen mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Armut. Internationale Kredite, Entwicklungshilfe und ausländische Investitionen gibt es kaum. Weite Gebiete sind für die Landwirtschaft aufgrund noch vorhandener tausender von Personenminen nicht nutzbar. Einnahmen kommen aus dem Export von Edel- und Halbedelmetallen. Der Energiesektor mit kleinen Wasserwerken wird aufgrund der wasserreichen Flüsse ausgebaut. Der Tourismus ist wegen der politischen Lage zum Erliegen gekommen. Für Deutsche ist z.B. eine konsularische Betreuung nicht möglich. Bergkarabach hat eigene Streitkräfte, die im Mai 1992 aus Heimkehrern verschiedener Truppenteile der Sowjetrepubliken gebildet wurden. Geschätzt wird ihre auf 18.000-20.000 Mann.

Im vierten Kapitel kommt der Autor zu den externen Akteuren die im Bergkarabach-Konflikt und in der Region Interessen haben. Er handelt sie in der Reihenfolge: Russland, Türkei, Iran, EU und einzelne EU-Staaten sowie schließlich die USA ab. Daran ist schon zu erkennen, wer die stärksten Interessen in Eurasien hat. Geopolitisch betrachtet ist der Südkaukasus für Russland Grenzregion und seit Putins Amtsantritt 2000 als „Nahes Ausland“ von bedeutendem Interesse. In verschiedenen Doktrinen zur nationalen Sicherheit ist das zu finden. Das Interesse Russland, den Einfluss von der Türkei oder auch der USA zu minimieren ist offensichtlich. Das bedeutet, je mehr Einfluss Russland in und auf Armenien hat, umso besser ist das. In Russland leben etwa 1,2 Millionen Armenier. Armenien hat z.B. Russlands Position bei der völkerrechtwidrigen Krim-Annexion unterstützt. In militär-strategischer Sicht bleibt Russland der Hauptakteur im Südkaukasus. Das beweist das am 9. November 2020 unterzeichnete Waffenstillstands-Abkommen nach dem zweiten Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Der Waffenstillstand soll für die nächsten fünf Jahre von russischen Soldaten überwacht werden. Es wird sicher nicht lange dauern und der Begriff des „Eingefrorenen Konflikt“ wird in den Medien auftauchen.

In den folgenden Teilen geht der Autor auf die Rolle des Iran, der Türkei der EU und die Positionen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und der USA ein. Deutschland hat im Südkaukasus gute Beziehungen zu Georgien und hat als erstes Land die Unabhängigkeit von der Sowjetunion anerkannt. Der ehemalige georgische Präsident Eduard Schewardnadse hatte eine entscheidende Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung. In Armenien wird die Resolution im Deutschen Bundestag von 2015, die das Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 als Völkermord benennt, positiv bewertet. 

Ein Blick auf die Türkei ist noch lohnenswert. 1952 ist das Land der NATO beigetreten, Grund war die Furcht vor sowjetischer Bedrohung. Im Kalten Krieg galt die Türkei als zuverlässiger Bündnispartner an der NATO-Südflanke. Diese Rolle ist seit dem Zerfall der Sowjetunion obsolet. Sprachliche, kulturelle und ethnische Verwandtschaft mit Aserbaidschan lassen das NATO-Mitglied nun an dessen Seite stehen. Das hat sich im September/November Krieg 2020 gerade durch Waffenunterstützung und Einsatz von Söldnern gezeigt.

Wie im Buchuntertitel angegeben bezieht sich dessen Inhalt auf die Zeit bis zum Jahr 2015. Am 27. September 2020 begann der zweite Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der mit dem Waffenstillstands-Abkommen am 9. November 2020 endete. Für Aserbaidschan ist er mit Geländegewinnen von Bergkarabach verbunden.  Andranik Aslanyan könnte seiner Dissertation ein neues Kapitel anfügen, in dem er Daten und Fakten aktualisiert. Wer sich für die Lage im Südkaukasus interessiert hat mit seinem Werk ein gutes Kompendium in der Hand.

Der Südkaukasus wird weiter ein internationaler Konfliktherd bleiben. Die Region ist geopolitisch und geoökonomisch durch Vorkommen von Gas, Öl und anderen Rohstoffen für nahe und entfernte Akteure interessant. Ethnische und religiöse Konflikte tragen auch nicht zu einem friedvollen Miteinander bei. Wenn es der Europäischen Union und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa  nicht gelingt durch Befriedung und wirtschaftliche Entwicklung die Territorialstreitereien zu unterbinden, wird der nächste Krieg womöglich länger als 44-Tage dauern und eine neue humanitäre Katastrophe heraufbeschwören. In den jetzt gerade beendeten Kampfhandlungen war von beiden Organisationen und auch von den Vereinten Nationen jedenfalls nichts zu merken.  

Aslanyan, Andranik Eduard: Energie- und geopolitische Akteure im Südkaukasus. Der Bergkarabach-Konflikt im Spannungsfeld von Interessen (1991-2015). Verlag Springer VS, Wiesbaden, ISBN 978-3-658-28515-9, 59,99 Euro.

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