Politische Zukunftsanalysen - kritisch betrachtet Rezension von Peter E. Uhde
In ihrer neusten Publikation Sicher. Und morgen? analysiert die Direktion für Sicherheitspolitik des Bundesministeriums für Landesverteidigung aktuelle und mögliche zukünftige Krisen- und Konflikte. Dabei wird der Blick nicht nur auf Österreich, sondern auf Europa und rund um den Globus gerichtet. Ein Unterfangen, das nicht einfach zu bewältigen ist. Daher zuerst ein paar grundsätzliche Feststellungen, bevor auf Einzelheiten des rund 300 Seiten umfassenden Inhaltes eingegangen wird.
Warum haben „sie“ nicht auf „die“ gehört? fragt Peter Filzmaier. Wer damit gemeint ist, erläutert er. Sie, das sind die Politiker und die, das sind die Wissenschaftler. Wissenschaftliche Politikberatung ist nicht nur in Österreich in der Corona-Pandemie ein kontroverses Diskussionsthemen. In der Einführung des Sammelbandes Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2021 vergleicht der Autor, Professor für Politikwissenschaft, Theorie mit Praxis. Eine seiner Feststellungen lautet, dass für Politiker Wählerstimmen und Meinungsumfragen oft einziger Evaluierungsprozess sind. Für Wissenschaftler hingegen ist es üblich, dass ihre Studien ständiger Kritik ausgesetzt sind. Durch Überarbeitung und Korrekturen werden sie und das Wissen ständig verbessert.
Nach der Einführung in Sicher. Und morgen? Befassen sich Johannes Frank und Arnold Kammel mit Österreichs Sicherheitspolitik in Pandemiezeiten. Sie betrachten das Risikobild und die Schlussfolgerungen. Der Leiter des Instituts für Friedensicherung und Konfliktmanagement Frank stellt fest: „Der Bewährungsfall für die österreichische Sicherheitspolitik ist eingetreten!“ Eine Grafik, auf der Auswirkungen auf die österreichische Sicherheit dargestellt werden, könnte auch auf Deutschland übertragen werden. Europa ist umgeben von einem Ring von Krisen. Um gegenüber künftigen Herausforderungen bestehen zu können, ist es erforderlich mögliche Risiken, Trends und Bedrohungen der nationalen Sicherheit fortlaufend zu analysieren und lagegerecht zu beurteilen. Österreich hat daher ein Risikobild mit der Perspektive 2030 erstellt. Arnold Kammel befasst sich dann mit Hybriden Bedrohungen, betrachtet das Umfeld der Europäischen Union (EU), hier besonders die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), Souveränitätsgefährdende Angriffe und Resilienz gegen Extremereignisse, bevor er zum Fazit kommt. „Moderne Sicherheitspolitik“ muss umfassend angelegt sein und aktiv gestaltet werden, damit sie ihren Auftrag erfüllt.
Nun folgen vier Kapitel, aus deren Überschriften die Inhalte der einzelnen Beiträge zu erahnen sind. Sie lauten: 02-Globalstrategische Trends mit 15 Beiträgen; 03-Risiken im Umfeld der EU, 14 Beiträge; 04-Systemebene EU, 6 Beiträge und schließlich das Schlusskapitel 05-Fokusthemen 2021 mit 14 Beiträgen. Der Aufbau der Beiträge, sie umfassen im Prinzip nicht mehr als sechs Seiten, ist immer gleich. Sie beginnen mit einer Zusammenfassung, daran schließt sich deren Inhalt an und sie enden mit einer Punktation von Kernaussagen, die auch in Englisch übersetzt sind. Eine kurze Vita über den Autor beendet den Textteil. Durchgehende grafische Illustrationen, rote Titel- und Zwischenüberschriften sowie farbliche Unterlegung der Kernaussagen, geben dem Gesamtwerk eine Leichtigkeit und gute Lesbarkeit. Das zeichnet das Kompendium bei aller Ernsthaftigkeit der angesprochenen Problemfelder und deren Herausforderungen, nicht nur sicherheitspolitischen, aus.
Im Beitrag: „Umfeld Szenarien 2035“ werden sieben aufgeführt, die als „Schlüsselunsicherheiten“ definiert werden und ein hohes Konfliktpotential beinhalten. Ohne jetzt auf diese einzugehen, stellt der Autor fest: „Will die EU in dieser Welt überleben und globalen Einfluss generieren, muss sie auch zu einer vertieften Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bereit sein.“ Aktuell darf ein Beitrag über COVID-19 nicht fehlen. Epidemien und Pandemien zählt der Autor zu den zentralen Problemen des 21. Jahrhunderts. In diesem Kontext sieht eine andere Autorin Bioterrorismus als „erhöhte“ Gefahr infolge der offen zutage getretenen Schwächen in den Gesundheitssystemen vieler Staaten. Auch die mangelhafte Krisenvorbereitung zeigt, welchen Risiken Staaten ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass sie auch ihre Streitkräfte auf terroristische Bioangriffe vorbereiten müssen. Weitere Beiträge im globalstrategischen Teil befassen sich mit den USA, China, dem Klimawandel, neuen Technologien, Terrorismus, Radikalisierung, politischem Islam, Europa und der NATO.
Im dritten Kapitel betrachten fünfzehn Autoren die „Risiken im Umfeld der EU.“ Umfeld ist hier nicht glücklich gewählt. Der Blick richtet sich auf Entwicklungen am Horn von Afrika, in Westafrika, Nordafrika, Libyen, Türkei, Iran, Syrien, Irak, den Nahen Osten, Afghanistan, aber auch auf den Westbalkan, den Donbass, Russland, den Kaukasus und den Schwarzmeerraum. Aus dem letzten Beitrag dieses Kapitels, der die Überschrift „Zusammenschau“ trägt, ist eine der Kernaussagen sinngemäß formuliert. Alte Konflikte könnten wieder aufleben, neue entstehen. USA und NATO haben kaum noch einen stabilisierenden Einfluss. Des Weiteren: „Die Türkei ist, mehr als Russland, der zentrale Gegenspieler Europas und die globale Dominanz der Ökonomie über die Politik verschärft die Konfliktlagen und macht Lösungen unwahrscheinlich.“ Diese Aussage gegenüber einem NATO-Mitglied stimmt mehr als nachdenklich.
Nachdem die Risiken aufgezeigt wurden, geht es im vierten Kapitel um die EU als politisches System. Wie ist sie in das globale Weltsystem einzuordnen, hat sie geopolitische Bedeutung, welche Reformen sind zukünftig notwendig, wie ist die GSVP auszurichten oder was wird von dem neuen Grundlagendokument „Strategischer Kompass 2020“ erwartet? In diesem Teil sind häufig Bezüge zu Österreich zu finden.
Im letzten Kapitel wird zuerst auf die Außen- und Sicherheitspolitik der neuen US-Administration geblickt. Große Hoffnungen setzt der Autor auf den US-Präsident Biden, dass dieser zu Institutionalismus und Multilateralismus zurückkehrt. Dem Verhältnis zu Deutschland widmet der Autor eine Kernaussage: „Dem Ausbau der strategischen Partnerschaft mit Deutschland stehen die gegenwärtigen Asymmetrien entgegen.“ Im Text steht die Begründung dafür. Aus Sicht der Amerikaner gibt Deutschland zu wenig für Verteidigung aus und hat gegenüber den USA zu hohe Exportüberschüsse. Das Projekt der Pipeline Nord Stream 2 lehnt Biden ebenfalls ab.
Mit „Liegt Sicherheit im Trend“ nähern wir uns fast dem letzten Beitrag. Da sich sein Inhalt auf die österreichische Bevölkerung bezieht, kann er nicht ein zu eins auf die deutsche Situation übertragen werden. Der Autor stellt fest, dass das Sicherheitsgefühl im Laufe der letzten Jahre nachgelassen hat. Dem kann nur mit gesamtstaatlichen Maßnahmen begegnet werden. Als eine davon kann die Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2021 mit ihrem breiten Themenangebot Sicher. Und morgen? des Bundesministeriums für Landesverteidigung der Republik Österreich (ISBN 978-3-903359-20-8) betrachtet werden. Die Ausführungen der Autoren, 20 Offiziere und 33 Wissenschaftler, darunter sechs Frauen, sind ein anerkennendes Beispiel sicherheitspolitischer Informationsarbeit.