Sektion Bonn

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Montag, 27.11.2023 - 19:00

Zeitenwende: Herausforderungen für die deutschen Nachrichtendienste und das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr

Vortrag (Präsenz) + Videokonferenz

Dr. Gerhard Conrad


Dank durch den Sektionsleiter Oberst aD R. Rohde an Dr. Conrad


Dank an Oberst aD Schmidt von der GKND


Das Team der Sektion Bonn und die Vertreter der GKND alle Fotos: Copyright R. Rohde

 

Berichterstattung zur Veranstaltung „Zeitenwende: Herausforderungen für die deutschen Nachrichtendienste und das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr“
 

Dr. Gerhard Conrad, Direktor beim Bundesnachrichtendienst (BND) a. D. & Direktor EU INTCEN a. D. trug im Rahmen einer hybriden Präsenz- und Zoom-Veranstaltung in Kooperation mit dem Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND) zum Thema „Zeitenwende: Herausforderungen für die deutschen Nachrichtendienste und das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr“ vor.

Der Vorsitzende des GKND, Herr Oberst a.D. Klaus Schmidt, stellte einleitend den Verein vor und verwies auf die Publikationen zu ND-politischen Themen, die auf der Website (www.gknd.org) zu finden seien.

Dr. Conrad trug in seinen Ausführungen vor zum (1) Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, (2) den hieraus erwachsenden neuen Aufgabengestaltungen für Nachrichtendienste sowie zu (3) Konsequenzen und Forderungen für den BND und die Bundesregierung.

Er stellte an den Anfang seiner Überlegungen die grundlegende Aussage, dass Nachrichtendienste keine „Akteure sui generis“ seien, sondern „Kreaturen“ des jeweiligen politischen Systems und damit der Regierungen: sie seien so gut oder schlecht wie es diese Auftraggeber erlaubten. Auch Deutschland (i.e. Regierung und gesetzgebende Organe) müsse sich Gedanken darüber machen, was es im Hinblick auf Innere und Äußere Sicherheit wolle, und wie diese Ziele konkret von den Diensten zu unterstützen seien.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war der zentrale sicherheitspolitische Paradigmenwechsel, der einen grundlegenden Mentalitätswandel auf politischer Ebene erfordere: die Politik müsse aufwachen! Dieser Krieg habe die Rückkehr der großen auch sicherheits- und militärpolitischen Divergenz zwischen Russland (und seinen Unterstützern) und dem Westen eingeläutet. Er bedeute einen „politischen Zivilisationsbruch“; Krieg sei wieder eine Option in Mitteleuropa. Auch wenn nicht notwendigerweise ein umfassender Kalter Krieg folge, so seien doch erhebliche potentielle Risiken erkennbar, insbesondere vor dem nuklearen Hintergrund. Die atomare Dimension sei nicht mehr auszuschließen. Deutschland müsse sich vergegenwärtigen, dass es auch einer direkten Bedrohung unterhalb der Bündnisverteidigung ausgesetzt sei durch hybride Handlungen über Nord- und Ostsee, z.B. des Luftraumes oder Kritischer Infrastruktur wie LNG-Terminals, Gaslager etc. Entscheidend für die Lagebeurteilung und darauf aufbauende militärische wie zivile Vorsorge sei nicht die augenblickliche Intention eines problematischen Akteurs, die sich schnell ändern könne, sondern die umfangreichen, über die Jahre beschafften Fähigkeiten.

Die Nachrichtendienste bräuchten eine der neuen Bedrohungslage angepasste Aufgabenstellung / Ausgestaltung. Es gehe nicht allein um Russland. Auch China mit seinen Fähigkeiten und Intentionen beträfe uns. Konflikte in der Region berührten unsere vitalen Interessen (Stichwort: Lieferketten, Handelsrouten). Die Folgerung des Vortragenden: wir müssen mehr wissen und mehr aufklären. Das gelte ebenso für den Nahen Osten, Iran / Persischer Golf. Hier sei unsere Versorgungssicherheit (Öl, Gas) tangiert. Ebenso von Interesse seien die sich zunehmend vom Westen entfremdenden  Länder des Globalen Südens, unter denen auch „failed states“ seien, die geschützte Räume für terroristische Netzwerke böten. Der Klimawandel habe verschärfte Probleme bei der Ressourcenverteilung mit Gewalt und Migration zur Folge. Nicht nur die Nachrichtendienste, sondern insbesondere auch die Politik müsse sich angesichts dieser Entwicklung Gedanken machen, ob Landes- und Bündnisverteidigung mittelfristig der einzige Fokuspunkt bleibe: out-of-area sei nicht out-of-question, so sein Statement. Der Vortragende bemerkte, dass die Diskussion über „Kriegstauglichkeit“ der Bundeswehr gezeigt habe, dass Deutschland als Gesellschaft noch nicht in der Realität angekommen sei, wenn es um das Ziel gehe, vitale Interessen erfolgreich zu schützen oder zu verteidigen.

Angesichts der Vielschichtigkeit der Herausforderungen gehe es für die Nachrichtendienste um den Willen zur Informationsüberlegenheit: Wissen sei Macht. „Strategic Intelligence“ sei nötig, um der Politik eine vernünftige Lagefeststellung und Lagebeurteilung an die Hand zu geben – auch wenn dieses in der Vergangenheit nicht immer die erhoffte Wirkung gezeitigt habe. Die Katastrophen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder der präzedenzlose Terrorangriff von Hamas auf Israel haben verdeutlicht, dass valide und zeitgerecht zur Verfügung stehende „Intelligence“ ein wesentlicher Teil der Lebensversicherung für einen Staat sei.

In seinen weiteren Ausführungen ging der Vortragende auf die internationale Zusammenarbeit, ihre Grenzen und Möglichkeiten ein. Er beklagte eine „Scheinheiligkeit“ hinsichtlich der gesetzlichen, moralischen und ethischen Standards, die uns hinderten, Dinge zu tun, von denen wir hofften, andere würden die „Kohlen aus dem Feuer holen“. Unsere Nachrichtendienste bräuchten angesichts der neuen Bedrohungslagen klare, konsequent auftragsgerechte Mandatierungen und Befähigungen, die wir noch nicht hätten. Dieses müsse gegenüber der Politik (Regierung, Bundeskanzleramt und Gesetzgebung) ebenso deutlich kommuniziert werden wie der Preis einer Versagung solcher gesetzlichen Rahmenbedingungen. Er verwies auf die Erfahrung mit Gesetzen zu den Nachrichtendiensten in der jüngsten Vergangenheit. Hier hoffe er auf eine Generalrevision im Hinblick auf Staaten mit vergleichbaren Wertevorstellungen. Erforderlich seien hier ein Rechtsvergleich ebenso wie ein umfassender Befähigungsvergleich. Die deutsche Sicherheitspolitik und in ihrem Rahmen auch die Nachrichtendienste müssten „raus aus dem Nischendasein“. Dieses sei eine gesellschaftspolitische Frage, zu der bisher nur Lippenbekenntnisse existierten. Zudem gelte es, wie ja auch im Fall der Bundeswehr, den „Status des Fußkranken“ hinsichtlich moderner Befähigungen aufzugeben. 

Dieses leitete zum abschließenden Teil über, in denen zentrale Forderungen für die notwendige Umsetzung des Paradigmenwechsels formuliert wurden: (1) Konsequente Einführung und langfristig angelegte Weiterentwicklung der foto-optischen  (Imagery Intelligence) und technischen  (Measurement Intelligence) Aufklärung aus dem All, (2) Angleichung der technischen Beschaffungsmöglichkeiten (SIGINT, COMINT, Cyber Network Operations) von Nachrichtendiensten und Bundeswehr, (3) Kontinuierliche Erprobung und schrittweise Einführung von Künstlicher Intelligenz und Quantum Computing zur Unterstützung von Aufklärung, Analyse und Berichterstattung, bis hin zu den Entscheidungsprozessen der Bundesregierung und anderer Abnehmer (4) Umfängliche Anpassungen im Personalwesen hinsichtlich Laufbahnen und Qualifikationen zur weiteren  Gewährleistung von fachlicher Exzellenz in Beschaffung und Auswertung sowie (5) Vollwertige Einbeziehung der Nachrichtendienste in eine konstruktive und sachbezogene Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, um dem zwingenden Erfordernis einer angemessenen Imagebildung (Employer Branding) Rechnung zu tragen.

Die anschließende Diskussion vertiefte die Frage des „Preisschildes“ für unzureichende Befähigungen zur nachrichtendienstlichen Arbeit (Mandatierung, Fähigkeiten) und die Frage des Gehörs der Nachrichtendienste in der Politik. Von Interesse war auch das Verhältnis zu anderen Nationen, die Zusammenarbeit mit ihnen und deren Möglichkeiten im Vergleich zu Deutschland. Weiterhin wurden Aspekte der Zuständigkeiten und Zusammenarbeit der Nachrichtendienste und Bundeswehr betrachtet. Darüber hinaus wurde die (Fehl-)Einschätzung der russischen Fähigkeiten durch westliche Nachrichtendienste diskutiert. Letztlich stand noch die Frage zur Diskussion, ob die Ergebnisse der Enquete-Kommission zu Afghanistan zu einer Änderung des „mindsets“ in der deutschen Politik führe würden.

Dr. Conrad trug in einer sehr lebendigen, bildhaften und kurzweiligen Art vor. Sein großes Fachwissen führte zu einem wahren „Feuerwerk der Informationen“. Seine Ausführungen waren offen, deutlich und auch schonungslos, provokativ und nachdenklich. Er bot eine sehr klare Analyse der deutschen Nachrichtendienste und zeigte auch nachvollziehbare Wege zu Veränderungen auf. Ein gelungener Abend zu einem sonst in der Öffentlichkeit wenig beachteten Thema.

Das Manuskript des Vortrages finden Sie unter Download der Einladung.

Diese Veranstaltung kann bei YouTube unter Gesellschaft für Sicherheitspolitik nachverfolgt werden.

YouTube Video zu "Zeitenwende: Herausforderungen für die deutschen Nachrichtendienste und das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr"

Text: Joachim Schulz, Pressebeauftragter GSP Bonn

 

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