Sektion Fritzlar - Schwalm-Eder

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Donnerstag, 19.04.2018 - 19:30

Der erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Menschen in Mittel- und Osteuropa

Vor 100 Jahren wurde nach dem Ende des Großen Kriegs oder Ersten Weltkriegs versucht, aus den Trümmern der internationalen Ordnung eine „neue Weltordnung“ zu entwerfen und aufzubauen. Dazu gehörte, dass Europa, so drückt es der Historiker Gerhard Besier aus, „mehr oder weniger zwangsdemokratisiert“1 wurde. Der internationale Frieden sollte mithilfe des Völkerbundes gesichert werden. Beides, stellte sich bald heraus, misslang. Die nächsten beiden Jahrzehnte, die sogenannte Zwischenkriegszeit, wurde für die meisten Menschen in Europa alles andere als eine Friedensperiode, ganz zu schweigen von einer Erholungszeit für die Menschen und Völker. Stattdessen gab es im Überfluss wirtschaftliche Sorgen, politische Unruhen sowie ethnische Konflikte und andere Gewaltausbrüche bis hin zu Bürgerkriegen.
Vortrag und Diskussion
Referent: Professor Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow , Von 1972 bis 2009 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg
Ort: „OASE – Haus an der Eder“/Soldatenheim Fritzlar - Waberner Straße 7 , 34560 Fritzlar
Organisator: Herr Reinhold Hocke , Sektionsleiter reinhold.hocke@gsp-sipo.de
Parkstraße 3, 34323 Malsfeld  05662 / 939556

Auch anderswo in der Welt ging es nicht friedlich zu, etwa im östlichen Asien, wo Japan 1931 die Mandschurei überfiel oder im nördlichen Afrika, wo sich Italien Abessinien (1935/36) einverleibte.

Schon seit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936, in den sich bald wichtige ausländische Staaten einmischten, lag ein nächster großer Krieg in der Luft. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg und sein Ausgang sind bekannt.

In Mittel- und Osteuropa (auch Südosteuropa, vom Balkan bis zur griechisch-türkischen Grenze) verliefen die Jahrzehnte zwischen 1918 und dem Zweiten Weltkrieg, sozusagen in bruchlosem Übergang aus der Zeit vor 1914, besonders turbulent und gewalthaltig. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat den nördlichen Teil dieser Region, vom Finnischen Meerbusen bis zur Krim, als die bloodlands bezeichnet, das Kerngebiet der Todeszone Europas zwischen Hitler und Stalin2. Die Kennzeichnung ist treffend; nur war das diese Region schon viel länger, wie uns historische Überblicke über die Geschichte der hier lebenden Menschen und Völker zeigen 3.

Zeitsprung: 1990 erschien die Großregion östlich des wiedervereinigten Deutschlands unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten zum ersten Mal im 20. Jahrhunderts keine Problemzone mehr zu sein. „Wir sind von Freunden umzingelt“, dies nett-flapsige Wort des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe brachte dies auf den Punkt. Das galt im übrigen auch in beide Richtungen: Deutschland wurde von der Mehrzahl der Menschen in diesen Ländern nicht länger als potentiell bedrohlich angesehen, im Gegenteil. Zwar gab es noch ein paar als Restprobleme angesehene Konflikte, etwa bei der Auflösung der UdSSR und dem Übergang zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) oder auf dem Balkan mit dem Zerfall Jugoslawiens. Aber auch, wenn man es damals schon hätte besser wissen können, es überwogen bei uns optimistische Prognosen für die Zukunft der „post-kommunistischen Transformationsgesellschaften“ 4. Transformationen sollten vor allem auf vier sozialen und politischen Feldern mit dem Ziel der strukturellen Umgestaltung und der Anpassung an westliche Ordnungsvorstellungen stattfinden:

- Ökonomisch: Übergang von der staatszentralen Verwaltungswirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft,
- Innenpolitisch: Übergang von der kommunistischen Diktatur zur einer Form der modernen Demokratie (entweder parlamentarisch oder präsidial ausgerichtet),
- Integrationspolitisch: in mittel- oder längerfristigen Perspektive Mitgliedschaft in der Europäischen Union5, die ihrerseits mit dem Maastrichter Vertrag (unterzeichnet im Februar 1992) einen Integrationsschub einleitete, sowie
- Sicherheits- und militärpolitisch: Liquidierung des Warschauer Pakts und Beitritt zur NATO, welchen Weg einige der postkommunistischen Staaten zu gehen sich sehr beeilten, insbesondere Polen und die baltischen Staaten6.

Am Erfolg dieser vier Transformationen zweifelten in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nur wenige.

Es ist aber anders gekommen, obwohl viele Länder in der hier betrachteten Großregion inzwischen der NATO und der EU angehören und alle, zusammen mit weiteren Ländern, einschließlich der USA und Russland, der OSZE. Dennoch ist die Liste der nicht unproblematischen bis höchst problematischen aktuellen Entwicklungen in dieser Region und an ihren Rändern unerfreulich lang.

Diese Konstellation ist, sieht man von den drei baltischen Staaten einmal ab, insgesamt in hohem Maße besorgniserregend und hat auch Auswirkungen auf Deutschland und das westliche Europa (siehe Migration)

Da stellt sich doch die Frage, wieso der politische und ökonomische Optimismus der ersten Transformationsjahre sich so nachhaltig aufgelöst hat. War er eigentlich ganz unberechtigt? Und woher kommen die Impulse für eine Abkehr von westlichen Demokratie-Vorstellungen? Als Antwort auf solche Fragen reichen monokausale Erklärungen nicht hin. Aber unter den vielen Wirkfaktoren für die beschriebene Entwicklung ist in der Vergangenheit zu suchen. Genauer: im Ersten Weltkrieg und besonders in der an seinem Ende beschlossenen und weitgehend kurzsichtig von den Siegermächten durchgesetzten Nachkriegsordnung. Die Region Mittel- und Osteuropa wurde damals gewissermaßen auf Gleise gesetzt, die bis heute ihre Entwicklungsrichtung mitbestimmt und die Beziehungen der Menschen und Völker in ihr beeinflusst haben.

Der Erste Weltkrieg als Geburtshelfer neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa

Selbstverständlich wäre es ein Irrtum anzunehmen, die politischen Verhältnisse zwischen den Völkern dieser Region seien vor 1914 grundsätzlich harmonisch verlaufen. Das Gegenteil ist der Fall. Es gab zahlreiche Konflikte, Krisen und Kriege zwischen den hier dominanten Mächten, zwischen Wien, St. Petersburg und Berlin, wozu man im Süden dieser Region auch das Osmanische Reich zählen muss. Dabei ging es hautsächlich um hegemoniale Ansprüche seitens der Großmächte und deren Balance, wofür die drei Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) zwischen Russland, Preußen und Österreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts markante Beispiele sind. Während dies schlicht als feudale Geopolitik bezeichnet werden kann, laden sich die Konflikte im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig mit nationalen Motiven und Dynamiken auf. Insbesondere die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn (als solcher eingeführt 1867) und das Osmanische Reich wurden von innen her, von nationalen Minderheiten mit der Forderung nach mehr Mitbestimmung oder gar Unabhängigkeit destabilisiert. Zudem stiegen in dieser Zeit auch Pan-Bewegungen zu einflussreichen kulturellen und politischen Konfliktakteuren auf; etwa der Panslawismus. Alles in allem war die gesamte Region einschließlich Südosteuropa und Osmanisches Reich vor 1914 ein großes Pulverfass. Es genügte schon, eine der vielen herumliegenden Lunten anzubrennen, um einen großen Krieg auszulösen8. Genau das passierte am 28. Juni 1914 in Sarajewo, als sich mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durch einen vom serbischen Geheimdienst zu diesem Zweck ausgebildeten serbischen Bosniaken9 ein großes europäisches Krisenkarussell zu drehen begann. Aus der sogenannten Juli-Krise entstand dann der Große Krieg, der über vier Jahre dauern und Millionen von Opfern kosten sollte10, Soldaten und Zivilisten.

Am Ende war auch die alte Staatenordnung zutiefst erschüttert.

Es war die Kombination von drei Faktoren, die zur Instabilität Europas (aber auch in anderen Weltregionen) in den folgenden Jahrzehnten führte:

- die Sprengkraft des Nationalismus mit dem Traumbild ethnischer Homogenität;
- die letztlich destruktive Vision sozialer Homogenität, welche von Sozialismus und Kommunismus in Aussicht gestellt wurde, und
- die geopolitisch motivierte Furcht vor einem hegemonialen Deutschland in der Mitte Europas („die deutsche Frage“).

Der zuletzt aufgezählte Faktor brachte die Siegermächte des Ersten Weltkriegs nicht nur dazu, dem besiegten Deutschland im Versailler Friedensvertrag die alleinige Verantwortung für den Krieg zu geben und entsprechende Wiedergutmachungen einzufordern. Auch die Neuordnung Mittel- und Ostmitteleuropas wurde in starkem Masse von diesem Motiv bestimmt. Der Friedensvertrag von Trianon besiegelte im Jahr 1920 die zuvor erfolgten Sezessionen aus dem Königreich Ungarn, das als einer der Kriegsanstifter bezeichnet wurde11. Die Vertragsgestalter gingen dabei „von dem Konzept aus, mit Hilfe einer Reihe unabhängiger Nationalstaaten Deutschlands Übergewicht in Mitteleuropa einzudämmen und eine Barriere gegen den Bolschewismus zu bauen“ 12.

Alle drei der oben genannten Faktoren zusammen bildeten bald einen schier unauflösbaren Knoten. Außerdem vermehrten die unmittelbaren und mittelbaren Kriegsfolgen die Überlebensschwierigkeiten der Menschen und verhinderten einen binnen-regionalen Ausgleich der Völker und Staaten. „Die Auflösung der Armeen, die Ströme von Heimkehrern, entlassenen Kriegsgefangenen, Flüchtlingen und Vertriebenen ließen es (Mitteleuropa) im Chaos versinken. Es kam zu bewaffneten Konflikten zwischen Nationen und politischen Aktivisten, zu Terror, Plünderungen und Brandschatzungen, Pogromen und anderen Gewaltverbrechen.“ 13 Gerade im östlichen Europa verankerte all dies eine allgemeine Konfliktbereitschaft.

Im Spannungsfeld von sich wechselseitig hochschaukelndem Nationalismus, revolutionärer und anti-revolutionärer (antikommunistischer) Brutalität bekamen die zunächst mit viel rhetorischem Brimborium eingeführten liberal-demokratischen Verfassungsinstitutionen der neuen Staaten so gut wie keine Chance zur Konsolidierung. In den offiziellen Verlautbarungen der Politiker und den Vertragstexten zum Frieden, so schien es jedenfalls, hatte sich mit dem Kriegsende 1918 das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundprinzip der neuen Ordnung durchgesetzt14. Tatsächlich aber wurde seine Realisierung sogleich von staatlichen Sonderinteressen der Siegermächte unmöglich gemacht. Auch objektive Gründen standen diesem letztlich naiven Ordnungsplan im Wege, etwa der Sachverhalt, dass die ganze Region ein einziger ethnischer Flickenteppich war. Anders gesagt: dass es unmöglich war, innerhalb staatlicher Grenzen auf friedliche Weise nationale Homogenität herzustellen. „Bei der Liquidation der Habsburgermonarchie wurde der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung faktisch außer Kraft gesetzt. Artikel 80 des Versailler Vertrages bestimmte die Unabhängigkeit Österreichs und negierte damit die deutschen und österreichischen Beschlüsse zur staatsrechtlichen Vereinigung beider Staaten“ 15. Ungarn verlor durch den Vertrag von Trianon etwa 70% seines Territoriums von 1914; auch Bulgarien erlitt territoriale Einbußen. In Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropa entstanden zahlreiche neue Staaten: Finnland, Estland, Litauen, Lettland, die Tschechoslowakei, Jugoslawien (unter serbischer Dominanz). Polen entstand erneut als selbständiger Staat und wurde durch die Gebiete Polnisch-Litauen, Wolhynien, Ostgalizien, Westgalizien, Teile Oberschlesiens sowie durch Posen und Westpreußen erweitert. Auch Rumänien erweiterte sein Staatsgebiet.

Die gesamte Region wurde in den Folgejahren von den Nachbeben des Ersten Weltkriegs erschüttert. Innenpolitisch waren die meisten Regime aus wirtschaftlichen Gründen, aber eben auch deshalb so instabil, weil sie nicht ethnisch homogene Nationalstaaten waren, sondern auch im Umfang beträchtliche nationale Minderheiten umfassten, deren Loyalität zu gewinnen sie wenig Bereitschaft zeigten. Die Anfangsjahre dieser heiklen politischen Konstellationen waren so von mannigfachen Gewaltkonflikten geprägt. Geschürt wurden sie beispielsweise durch die Volksabstimmungen über die Selbstzuordnung der Bevölkerung zu Polen oder zu Deutschland (am 11. Juli 1920 in Masuren und Westpreußen und am 20. März 1921 in Oberschlesien). Hier wie in vielen anderen Teilen der Region wurde durch die so hergestellte neue Ordnung fast überall ein Geist des Revisionismus gezüchtet, der schon bald giftige Früchte tragen sollte.

Der Aufstieg autoritärer Regime

Sechs der sieben neuen souveränen Staaten im östlichen Mitteleuropa (Finnland, die drei baltischen Staaten, Polen, Tschechoslowakei) begannen als demokratisch-parlamentarische Regime. Ungarn war die Ausnahme. Aber nur Finnland und die Tschechoslowakei konnten diese Herrschaftsordnung einigermaßen aufrechterhalten.

Ungarn durchlebte erst eine kurze Zeit der Räteregierung unter Béla Kun (Oktober 1918 bis August 1919). Sie wurde, keineswegs gewaltlos, durch das rechts-autoritäre Regime des Admiral Miklós Horty abgelöst. Dieser blieb bis 1944 an der Macht, seit der Mitte der 1930er Jahre als Verbündeter Italiens und Deutschlands.

In Polen spielte Józef Pilsudski von 1918 bis zu seinem Tod 1935 die entscheidende militärische und politische Rolle. Sein außenpolitisches Konzept war die Wiederherstellung Großpolens, das alle durch die früheren Teilungen des Landes verloren gegangenen Territorien und darüber hinaus auch noch bestimmte angrenzende Gebiete wieder vereinen würde. Dazu führte er zunächst Kriege gegen die durch den andauernden Bürgerkrieg („Rote“ gegen „Weiße“) geschwächte Sowjetunion und gegen Litauen, womit er in der Tat das polnische Staatsgebiet vergrößerte. Seit 1926 regierte Pilsudski das Land als Präsidialdiktator, ohne dass seine Rolle in der Verfassung genauer definiert war.

Im gleichen Jahr 1926 wurde in Litauen, 1934 schließlich auch in Estland und Lettland ein autoritäres Regime etabliert. Die „Lebensversuche moderner Demokratie“ 17 fielen in den Staaten Europas unterschiedlich aus, aber sie blieben selbst dort, wo es nicht zu einem Rutsch ins Autoritäre kam, immer gefährdet, mit ganz wenigen Ausnahmen wie etwa in den skandinavischen Staaten.

Ernst Nolte nannte in seiner vielgerühmten Habilitationsschrift die Zwischenkriegszeit in Europa deshalb die „Epoche des Faschismus“ 18. Das war sie gewissermaßen aber nur zur Hälfte, denn mit der Revolution in Russland begann auch die Epoche des Sowjetkommunismus, die über die Zwischenkriegszeit hinaus- und bis 1990 reicht. Von den drei ordnungspolitischen Konzepten, die sich als „Antworten“ auf die Krisensituation nach 1918/19 anboten, also dem Marxismus/Sowjetkommunismus, dem Faschismus/Nationalsozialismus und der liberalen Demokratie hatte letztere offensichtlich die schwächsten Karten19. Für die beiden anderen fanden sich überall in Europa Fürsprecher. Mit nationalistischen und revisionistischen Propagandaformeln wurden den demokratischen Institutionen fast überall das Wasser abgegraben. In den meisten schon vor 1914 existierenden und in den 1918/19 unabhängig gewordenen Staaten des östlichen Europa, kam es, jeweils beflügelt von einem militanten Nationalismus, zum Aufstieg autoritärer Regime, die dann allerdings in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erleben mussten, dass sie gegen den politischen, später auch militärischen Druck des nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion kaum effektiven Widerstand mobilisieren konnten. Und wenn doch, dann zu einem ungemein hohen Preis.

Der Zweite Weltkrieg, Kalter Krieg und die Wiedervereinigung Europas

Die Zwischenkriegsperiode endete nach knapp 21 Jahren am 1. September 1939, und man mag sich in der Tat fragen, ob der Erste und der Zweite Weltkrieg als historische Einheit begriffen werden sollten, eine Art Dreißigjährigen Krieg mit Ausruhphasen zwischendurch. An seinem Ende war die „Epoche des Faschismus“ definitiv zu Ende. Europa (und Deutschland und Berlin) wurden zweigeteilt in einen sowjetischen und einen amerikanischen Einfluss- und Herrschaftsbereich. Es ging allerdings nicht nur um geopolitische und Territorialgrenzen, sondern auch um die „Systemkonkurrenz“ von gegensätzlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen sowie unterschiedliche Welt- und Menschenbilder. Einige der 1918/19 neu entstandenen Staaten des östlichen Europa waren schon im Krieg wieder von der Sowjetunion geschluckt worden (nämlich die drei baltischen Staaten); Polen wurde territorial auf Kosten Deutschlands bis zur Oder-Neiße-Grenze nach Westen verschoben.

Während des Kalten Krieges bildete das östliche Mitteleuropa ein strategisches Vorfeld der Sowjetunion, deren Machthaber sehr genau darauf achteten, dass nach Titos Jugoslawien und dem nicht wirklich wichtigen Albanien kein weiteres Land aus dem „Ostblock“ ausbrach. Insofern stimmt auch der Ausdruck „Satellitenregime“ für deren Regierungen. Andererseits jedoch gelang es den Kommunisten nicht, das Legitimitätsguthaben, das der Roten Armee (außer in Polen) wegen der „Befreiung vom Faschismus“ unmittelbar nach Kriegsende durchaus eingeräumt wurde, zu erhalten oder gar auszuweiten.

Das gesamte östliche Europa einschließlich der SBZ in Deutschland wurde von Moskau unter Mithilfe der einheimischen kommunistischen Parteien unter strenges Kuratel gestellt und sowjetsozialistisch umgestaltet. Das geschah notfalls mit Zwang. Wenn es zu Unruhen und Aufständen kam, auch mit Panzern20. Wir erinnern uns an den 17. Juni 1953 in der SBZ, den Juni 1956 in Polen, den Herbst desgleichen Jahres in Ungarn, den „Prager Frühling“ 1968 in der Tschechoslowakei und die Auguststreiks 1980 in Polen, die zur Ausrufung des Kriegsrechts der Regierung Jaruzelski führten. Außerdem gab es in den baltischen Staaten nach 1945 eine Reihe hierzulande kaum beachteter Partisanenkämpfe gegen die sowjetische Herrschaft, die jedoch in aller Stille rasch und brutal unterdrückt wurden.

Entscheidende Antriebsmomente für den blockinternen Widerstand im östlichen Europa waren die Empörung über die Unterdrückung und die oft geradezu offen-zynische Diskrepanz zwischen dem volksdemokratischen Gehabe der Kommunisten und ihrer Missachtung demokratischer Grundsätze (Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit) sowie die große Unzufriedenheit darüber, dass Staat und Gesellschaft fremdgesteuert wurden und nationale Eigenständigkeit allenfalls als Folklore zugelassen war.

Von diesen Antriebsmomenten wurden im Westen die Sehnsucht nach Demokratie in diesen Ländern meist über- und die Sehnsucht nach nationaler Eigenständigkeit meist unterschätzt.

Beides spielte, zusammen mit ökonomischen Motiven, eine wichtige Rolle im komplexen Prozess der Entspannung des Ost-West-Konflikts, der in den 1970er Jahren die KSZE-Politik beförderte. Dabei mussten die Staatsführungen in Moskau und den osteuropäischen Satellitenstaaten gegen wirtschaftliches Entgegenkommen seitens des Westens eine Reihe von Zugeständnissen bei den Menschenrechten machen, die trotz der Holprigkeit der Entspannung letztlich mit dazu beitrugen, die letzten Reste des Legitimitätsguthabens der kommunistischen Regierungen zu verwirken. Dieser Vorgang spielte sich in allen ostmitteleuropäischen Ländern ein wenig anders ab, aber überall kam er zum selben Ende, der Implosion sowjetsozialistischer Herrschaft. Die berühmte KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 und schließlich der Zerfall der Sowjetunion etwas mehr als ein Jahr später markieren das Ende des Ost-West-Konflikts.

Berlin, Deutschland, Europa feierten die Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen westlicher Demokratie. Der Zerfallsprozess der sowjetisch dominierten Satelliten-Konstellation in der Region blieb nicht ganz, aber weitgehend gewaltfrei. Anders sah es ausgerechnet in jenem Teil Südosteuropas aus, der sich eine verquere sozialistische Eigenständigkeit gegenüber Moskau bewahrt hatte, nämlich in Jugoslawien. Die Föderation löste sich gewaltsam auf, und – wir hätten aufmerken müssen – hierbei spielten nationale Visionen und chauvinistische Expansionspläne die entscheiden Rolle, also genau solche Vorstellungen, von denen die allermeisten Menschen angenommen hatten, sie gehörten einer überwundenen Vergangenheit an.

Transformation als Pirouette

Für die meisten von uns, egal ob Politiker, Experte, Journalist, oder normaler Medienkonsument, war damals klar, dass in allen post-kommunistischen Ländern Europas, auch in Russland und der GUS21 nun zwei grundlegende Veränderungen (Transformationen) stattfinden würden, von den neuen Eliten gewollt und den Bevölkerungen enthusiastisch unterstützt: die Transformation des Wirtschaftssystems durch Einführung der Marktwirtschaft und die Transformation des politischen Systems durch die Einführung der Demokratie nach (dem einen oder anderen) westlichen Vorbild. Beide Prozesse wurden in den frühen 1990er Jahren mit Verve und nicht unbeträchtlicher Hilfestellung seitens des Westens begonnen. Aber nach anfänglichem Erfolg stagnierten sie bald. Die Transformation kam nicht voran, drehte sich auf der Stelle und wurde durch neue Problem, von denen viele eben auch alte Probleme waren, gestoppt.

Sicherheits- und bündnispolitisch: Das größte Problem für diese Großregion und darüber hinaus sind die völkerrechtswidrige, inzwischen auf absehbare Zeit kaum noch rückgängig zu machende Annexion der Krim durch Russland im März 2014 sowie der von Moskau unterstützte und letztlich gesteuerte hybride Krieg22 im östlichen Teil der Ukraine. Das hat insbesondere bei den baltischen Staaten und in Polen die Furcht weiteren aggressiven Aktionen des Kremls geweckt und, neben einer Reihe von Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch ein Umdenken innerhalb der NATO ausgelöst, für die Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit an seiner Ostfront neu betont wurden.

Ordnungspolitisch: Die Demokratisierungs-Euphorie aus den 1990er Jahren ist längst verflogen.

Russland hat sich unter Putin zu einem autoritären Staat entwickelt, in dem Opposition und Kritik am herrschenden System rigoros unterdrückt werden. Weißrussland ist im gesamten Zeitraum nach 1990 eine Diktatur geblieben.

Das Ende 2004 kurzzeitig aufflackernde Aufbegehren der Menschen auf dem Maidan von Kiew hat keineswegs einen Demokratisierungsprozess der korrupten Strukturen von Staat und Gesellschaft durchsetzen können, stattdessen letztlich nur deutlich gemacht, dass wir es hier mit einem failing state zu tun haben, einem programmierten Staatsversagen, woran der 2014 ins Amt gewählte Präsident Petro Poroschenko bis heute nicht wirklich etwas geändert hat. Für solche postsowjetischen Staatsgebilde verwendet der russische Historiker Furman den Begriff der „imitierten Demokratie“ 23

Die innenpolitische Entwicklung der Staaten in der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) schien zunächst ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Übernahme westlich-demokratischer Ordnungsstrukturen zu sein. Inzwischen aber mehren sich die Anzeichen, dass dies nur ein Oberflächenphänomen war. Die aktuellen Regierungen tun jedenfalls viel, um diese Strukturen zu unterminieren. Eines der Krebsübel in vielen Staaten der Region, besonders in Südosteuropa, namentlich in Rumänien, Bulgarien den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist eine tiefreichende, strukturelle Anfälligkeit für Korruption, was eine Konsolidierung dieser Staaten schwermacht und beispielsweise die Migrationsbereitschaft vieler Menschen dort immer auf’s Neue anstachelt.

Für die nord- und mittelosteuropäischen Länder schloss diese politische Transformation quasi automatisch auch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nach einer bestimmten Anpassungs- und Übergangsphase ein. Tatsächlich kam es nach einer Übergangs- und Anpassungsphase auch dazu: die drei baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien und Ungarn traten der EU am 1. Mai 2004 bei; Rumänien und Bulgarien am 1. Januar 2007, Kroatien am 1. Juli 2013. Bis auf die letzten drei sind alle genannten Staaten auch Mitglied des Schengen-Raums (seit Ende 2007); Bulgarien und Rumänien befinden sich noch in einer Vorphase der Mitgliedschaft (es ist aber heute zweifelhaft, ob es dazu kommen wird).

Fügen wir noch hinzu, dass Polen, Tschechien und Ungarn seit März 1999 Mitglieder der NATO sind. Die drei baltischen Länder, Bulgarien Rumänien, die Slowakei und Slowenien traten der NATO im März 2004 bei, Albanien und Kroatien im April 2009 und Montenegro im Juni 2017.

Zusammengefasst: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sollte das gelingen, was an seinem Beginn, nämlich in den Jahren nach der russischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs, danebengegangen war – die Etablierung demokratischer, europäisch orientierter und stabiler Staaten im Westen von Russland.

Inzwischen hat sich da sehr viel mehr Skepsis ausgebreitet. Und manche Pessimisten befürchten sogar die Wiederholung jener Entwicklungen in der Region, die in den 1920er und 1930er Jahren ablief, weg von der Demokratie und hin zu präsidial-autoritären Regimen mit mini-imperialistischen Ansprüchen an die Nachbarstaaten. Wenn also in Staaten wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, um nur sie zu nennen24, die Transformation gescheitert oder mindestens steckengeblieben ist, haben wir es dann tatsächlich mit einer Wiederholung der Geschichte zu tun?

Die neue Attraktivität eines souveränen Nationalismus

Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht in genau derselben Abfolge. Der historische Kontext heute ist weitgehend anders als der von 1918/19. ABER es gibt freilich auch so etwas wie ein kulturelles Prägemuster, bestehend aus generationsübergreifenden politischen Erfahrungen, nationale Überlieferungen und Anteilen an einer kollektiven Identität. All das zusammen verdichtet sich zu typischen nationalen Handlungsgewohnheiten, die gewiss gegenüber Herausforderungen und Einflüssen von außen nicht immun sind. Gerade jedoch dann, wenn solche Herausforderungen und Einflüsse von außen einen bedrohlichen Charakter anzunehmen scheinen, verlässt man sich gerne auf solche bewährten(?) Handlungsgewohnheiten, manchmal ganz bewusst, manchmal auch ohne viel Nachdenken.

Das klingt soziologisch-abstrakt und muss sogleich illustriert werden. In jedem einzelnen der mittel- und osteuropäischen Staaten liegen die Dinge ein wenig anders, so dass man solche Illustrationen nicht generell, sondern immer nur für den Einzelfall liefern kann. Das soll hier, in aller Kürze, anhand der Entwicklung Polens geschehen.

In Polen hat sich über die Jahrhunderte eine Tradition des starken Nationalismus erhalten, der möglicherweise durch den politischen Druck von Westen (Preußen/Deutschland) und Osten (Russland) so nachhaltig gefestigt wurde. Die (Wieder-)Gründung des polnischen Staates nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war ein Moment nationalen Jubels, der sogleich überschattet wurde durch die Konflikte mit den Nachbarn, aber auch durch interne Spaltungen. Beides zusammen führte zur Ausbildung eines autoritären Regimes, das gegen das zeitweilige Zusammengehen von Hitler und Stalin (Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 und Deutsch-Sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939) machtlos war. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs stand so die vierte Teilung Polens; auch dies konnte trotz schrecklichster Erfahrungen sowohl mit der deutschen Besatzungsmacht als auch mit der Roten Armee (Katyn April/Mai 1940; „Warschauer Aufstand“ August 1944), die enormen Zerstörungen und Millionen von Opfern konnten den polnischen Widerstandswillen nicht brechen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Staat war abhängig von der Gnade der Sowjetunion. Die „Westverschiebung“ Polens bedeutete automatisch einen strukturellen Dauerkonflikt mit Deutschland, das allerdings in zwei Staaten aufgeteilt war, von denen der eine ebenfalls von Moskaus Gnade abhing. Weil das so war, blieb man in Polen skeptisch gegenüber der Haltbarkeit des „Görlitzer Abkommens“ vom 6. Juli 1950, in dem die DDR die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische „Friedensgrenze“ anerkannte. Unermüdlich versuchten die polnischen Regierungen in den Folgejahren, auch die Bundesrepublik zu einer solchen Anerkennung zu bewegen. Letztlich gelang dies erst kurz vor der Wiedervereinigung im Juni 1990.

Das Ende des Ost-West-Konflikts bedeutete eine gründliche Renovierung des „gemeinsamen europäischen Hauses“. Die alten Tapeten mit den Konflikt-Mustern der vergangenen Jahrzehnte wurden abgerissen. Darunter kamen aber eine ganze Reihe von älteren Konfliktmustern ans Licht. Auf der Folie anhaltend dynamischer Globalisierung mit ihren zwiespältigen Auswirkungen auf die Menschen (Modernisierungsdruck, Vertrauensverlust in eine sichere Zukunft, Entfremdung von den Eliten) hat sich in Polen, das damit aber in der Region keineswegs alleine steht, ein „neuer Autoritarismus“ zu etablieren begonnen. In der Perspektive der jetzigen Regierung hat ihr „die Stimme des Volkes“ das Mandat erteilt, das Land in eine „nationale Gemeinschaft“ mit einer heroischen Geschichte als Klammer und einem europäischen Desintegrationsprogramm als Ausdruck nationaler Souveränität zu verwandeln25. In diesem Sinne verfährt die polnische Regierung seit einiger Zeit: Die Unabhängigkeit des Rechtswesens wird eingeschränkt, europäische Abmachungen werden außer Kraft gesetzt, ein nationaler Heroismus wird konstruiert und mit medialem Druck dem Volk injiziert und die unbefleckte Opferrolle in der Vergangenheit gegen alle kritischen Einwände harsch verteidigt.

Ähnliche Vorgänge spielen sich in den anderen Visegrad-Staaten ab. Für alle gehören eine offensive Souveränitätsentfaltung und die Desintegration aus supranationalen Abmachungen zum Kern ihrer Politik. Das ist keine Wiederholung der regionalen Entwicklung der Zwischenkriegsjahre, vielmehr eine Wiederaufnahme seinerzeit enttäuschter Zielvorstellungen und Handlungskonzepte unter gegenwärtigen Verhältnissen. Ein verständlicher, in Teilen auch gerechtfertigter, aber eben doch ein Anachronismus.

Sicherheitspolitische Folgerungen für Deutschland

Zum Abschluss können wir uns kurz halten: Aus deutscher Perspektive ist die geschilderte Entwicklung nicht unproblematisch, wenngleich noch lange kein Grund zur Panik. Politische Verwicklungen à la Julikrise 1914 sind ebenso wenig zu gewärtigen wie eine Neuauflage des Ost-West-Konflikts. Der durchaus nicht ganz unbrisante Konflikt mit Russland ist sozusagen klassisch-geopolitischer Natur und wird die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten eher nach Westen blicken lassen. Wie in manchen anderen Politikfeldern auch liegt hier eine große Herausforderung für eine weitsichtige und selbstbewusste Politik des Westens, sowohl im transatlantischen Verhältnis als auch innerhalb Europas. Von manchen Wertprioritäten als Voraussetzung gemeinsamer europäischer Politik werden wir allerdings wohl erst einmal Abschied nehmen müssen. Oder anders gesagt: die mittel- und osteuropäischen Länder werden sich in absehbarer Zeit nicht zu westlichen Demokratien entwickeln. Die Westeuropäer und insbesondere auch wir in Deutschland müssen uns auf eine recht mühselige Art der Kooperation mit diesen Ländern einstellen.

So wie bestimmte westliche, europäische und deutsche Sicherheitsstandards und Eigeninteressen gegenüber dem russischen Einfluss-Streben gen Mittel- und Osteuropa gemeinsam mit den sich dort von Russland bedrohten Ländern deutlich gemacht und demonstriert werden müssen, müssen auch bestimmte Demokratiestandards für die Innenpolitik der Länder in dieser Region deutlich gemacht und demonstriert werden. Von Deutschland ist hier kluge Machtpolitik gefordert.


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