Deeskalation ohne Schwäche!
Gegenrede zum geforderten „Neuanfang im Verhältnis zu Russland“.
Den Autoren, die einen „Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ anmahnen, ist sehr wohl zuzustimmen: Die aktuelle Entwicklung rund um die Ukraine gibt Anlass zu großer Sorge. Sie droht in Kontrollverlust auf allen Seiten, unbeherrschbarer Eskalation und letztlich einem Desaster zu münden – wenn jetzt nicht kühler Kopf bewahrt wird. Das ist die brisante Ausgangslage.
Aber es lässt sich nun mal schlecht verdrängen: Konkreter Auslöser ist der wiederholte und kaum verhüllte Versuch Russlands, durch massive Truppenbewegungen im Zuge der ukrainischen Grenze dem westlichen Bündnis einseitige Zugeständnisse abzuringen. Putin hält sich viele Optionen offen, betont aber klar, auf was es ihm ankommt: Die Nato dürfe sich nicht weiter nach Osten ausdehnen, und dafür seien rechtverbindliche Garantien zu geben. Was Moskau unter Souveränitätsgarantien versteht, hat man im Zuge der Krim-Krise 2014 schmerzvoll erlebt. In jedem Falle aber nimmt die Ukraine jetzt eine Art Geiselrolle für Russlands einseitige Ansprüche wahr. Und in der Kombination etwa mit einem Blick auf Georgien, auf Moldawien, auf die Duldung und wohl auch Förderung belarussischer Völkerrechtsverletzungen, auf hybride Einflussversuche im Ausland oder auf den Umgang mit eigenen Dissidenten, mahnt das zu äußerster Vorsicht.
Wenn man zudem Russlands Sicherheitsbedürfnis jenseits aller Rhetorik analysiert, so wird deutlich: Es gibt wenig Grund für die Annahme einer territorialen Bedrohung im klassischen Sinn. Wer sollte denn wo auf russischem Territorium einmarschieren können oder wollen? Die Ukraine? Polen? Nato-Truppen? Jeder Gedanke daran ist absurd. Weder Motive noch Kräfte sind erkennbar. Nein, Putin kann sich bei nüchterner Betrachtung allenfalls davor fürchten, seine Ambitionen auf die so verzweifelt angestrebte Großmachtrolle weiter zu schmälern – und damit möglicherweise auch innenpolitisch unter zusätzlichen Druck zu geraten. Aber sind das Gründe, die uns im Westen dazu bewegen sollten, die eigene Sicherheitsvorsorge aus dem Auge zu verlieren?
Unbestreitbar ist natürlich: Die Hoffnung auf ein Abflauen der Konflikte zwischen Russland und dem Westen darf nicht versiegen. „Einseitig auf Konfrontation und Abschreckung“ – wie die Autoren das formulieren – zu setzen wäre grundverkehrt. Das wird auch von niemandem ernsthaft gefordert, trotz allen unnötigen Säbelrasselns. Aber Entspannung mit bloßen Worten und zugleich leeren Händen, das hat auch noch nie funktioniert. Gerade wir Deutschen haben doch von einer viel besseren Formel profitiert: Abschreckung und Entspannung, oder gerne auch umgekehrt.
Wenn die Autoren nun als Lösung eine „hochrangige Konferenz“ vorgeschlagen, dies mit dem Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur, dann klingt das prima – und auch ein wenig typisch deutsch. Der Ansatz ist freilich weder neu noch derzeit wirklich reif. Konferenzen sind kein Selbstzweck, außer dass man damit vielleicht Zeit erkaufen (oder auch verlieren) kann. Bevor man sie fordert, sollte man sich jedenfalls erst mal über die eigenen Eckpunkte klar werden. Also darüber, was denn unsere strategischen Interessen sind – über den selbstverständlichen Wunsch hinaus, den Einsatz von Waffengewalt möglichst zu verhindern? Welche elementaren Punkte sind für uns verhandelbar, welche nicht – gerade auch mit Blick auf Russlands Wünsche? Oder auch vertiefend gefragt: Was ist eigentlich (nicht) Europa? Welche Werte verbinden uns (nicht)? Wie lassen sie sich in der Praxis durchsetzen? Was bedeutet eine umfassende europäische Sicherheitsstruktur für die transatlantischen Beziehungen, was für das künftige Verhältnis zu China? Usw. Ohne gemeinsame eigene Positionen – und diese sind wenig erkennbar – ist ein Konferenzerfolg kaum denkbar, sondern droht im absehbaren Misserfolg eher Gräben zu vertiefen. Das Ergebnis wäre Rückschritt.
In jedem Falle hochriskant ist der Vorschlag, während der mindestens (!) zweijährigen Konferenzdauer auf „eine Stationierung von zusätzlichen Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn“ zu verzichten. Wie bitte? Soll das etwa die einseitigen Selbstbeschränkungen der Nato-Russland-Akte von 1997 erweitern? Es würde ja im Kern bedeuten, alle weiteren Vorkehrungen (Stichwort z.B. infrastrukturelle Voraussetzungen für die Verlegefähigkeit von Verstärkungstruppen) für die noch völlig unzureichende und aus geostrategischen Gründen extrem schwierige Bündnisverteidigung etwa auf baltischem Boden zu beenden bzw. zu unterbrechen. Sind sich die Autoren des „Aufrufs“ da eigentlich bewusst, welch langen Vorlauf jede Kräfteverstärkung im Zuge einer etwaigen Konfrontation erfordert? Wie hybride Fähigkeiten in einer solchen Vereinbarung zu werten sind? Wie das Problem der Verifikation und Vertrauensbildung mit Blick auf die ungleichen geographischen Ausgangsbedingungen gelöst werden kann? Und vor allem: Ist klar, was das für die sogenannte nukleare Schwelle bedeutet?
Hier noch einmal der Blick zurück: In der Ost-West-Konfrontation waren konventionelle militärische Fähigkeiten, die nur eine kurze Vorwarnzeit benötigten, immer in unserem deutschen Interesse, um die Gefahr eines Nuklearkrieges zu mindern. Eine reine Stolperdrahtstrategie wäre fatal gewesen. Flexible Response verlangte vielmehr eine starke konventionelle Grundlage. Nun leben wir heute nicht mehr im Kalten Krieg. Aber wer die „sich abermals verstärkende Eskalation im Verhältnis zu Russland“ mit „allergrößter Sorge“ (sic!) betrachtet, muss alle Facetten bin hin zum worst case ins Kalkül ziehen. Alle Empfehlungen, die auf eine Schwächung der bündnisgemeinsamen Verteidigungsanstrengungen hinauslaufen, sind daher brandgefährlich.
Präsident Biden hat mehrfach und auch in der jüngsten Videoschalte mit Präsident Putin (eine gute und nötige diplomatische Initiative!) klargemacht, wie wenig die USA an aktive militärische Reaktionen im Falle eines etwaigen russischen Angriffs auf die Ukraine denken. Das entspricht einer zutreffenden Lagebeurteilung. Denn es bleibt hier – dies bereits mit einem Blick auf die Karte – auch wenig anderes übrig. Die Ukraine ist, wenn man das in klassischen Kategorien der Kriegsführung betrachtet, bündnispolitisch und geostrategisch in einer extrem schwierigen Lage. Militärisch hinreichende Hilfe von außen käme wohl immer zu spät. Umso wichtiger ist es, Abschreckung sehr viel breiter als nur militärisch zu denken. Und hier kommen in einer Welt, in der alle Akteure außenwirtschaftlich wie nie zuvor miteinander verflochten sind, insbesondere auch ökonomische Erwägungen – von Anreizen bis hin zu Sanktionen – ins Spiel. Biden hat seinen Willen mehrfach bekräftigt, Instrumente dieser Art gezielt und hochintensiv zu nutzen.
Nun lässt sich über deren realistischen Wert in der Tat streiten. Nicht überall schlagen sie durch, wie auch das Beispiel Russland spätestens seit 2014 zeigt. Man könnte gar über die überspitzte These diskutieren, dass der gegenwärtigen russischen Elite herkömmliche Großmachtambitionen und nicht zuletzt auch der eigene Machterhalt wichtiger sind als allgemeine Prosperität. Wirtschaftlicher Aufschwung könnte zudem ja auch gesellschaftliche Veränderungsprozesse entfesseln, so vielleicht die Ratio. Vor diesem Hintergrund würden ökonomische Sanktionen in der Tat keinen allzu großen Effekt erzeugen. Überdies sind Anreize immer das bessere Mittel als starre Strafaktionen. Falls aber auch sie nicht wirklich greifen, dann darf das nicht zur Bankrotterklärung bei der Würdigung internationalen Machtmissbrauchs führen. Eine ausgestreckte Hand ist immer gut. Aber heißt das auch, im Falle von Drohgebärden verängstigt wegzuschauen, alle Preisschilder einer Aggression abzuhängen und damit vielleicht gar den Eindruck einer Belohnung zu erwecken? Und nochmal: Der Schlüssel, Sanktionen zu vermeiden, liegt im vorliegenden Fall einzig und allein in Moskau. Wo sonst?
Als Kurzfazit bleibt: Die Vorschläge des Aufrufs zu einem Neuanfang im Verhältnis zu Russland sind bestimmt gutgemeint, in jedem Fall auch verdienstvoll. Die Autoren befruchten eine dringend nötige Diskussion über unsere weitere Zusammenarbeit mit Russland. Sie verdeutlichen ein hochaktuelles Grundproblem sinnvoller Außenpolitik in einer schwierigen Lage mit unmittelbarer Auswirkung weit über Europa hinaus. Sie lenken sinnvollerweise den Blick auch auf die Perspektiven und Narrative Moskaus. Aber ihre idealistischen Empfehlungen sollten besser nicht eins zu eins umgesetzt werden. Das wäre eher naiv und obendrein brandgefährlich für die Sicherheit Europas, wenn man die bisherigen Linien der Putin’schen Politik fortschreibt. Im Kern entsprechen die Überlegungen damit weder einer werte- noch einer interessengeleiteten Sicherheitspolitik.
Ein offener, ehrlicher Dialog mit Russland ist vordringlich, das ist wahr. Dieser Dialog muss die das Selbstverständnis, die Ambitionen und auch die Sprache der russischen Führung nicht in jedem Punkt billigen, aber wohl mehr als bisher berücksichtigen. Er hat auch für vertretbare Zugeständnisse offen zu sein und sollte dies verdeutlichen. Jedoch wird er nur dann zu Annäherung oder gar zu Lösungen führen, wenn er zugleich unsere eigenen Stärken selbstbewusst nutzt und diese nicht vorschnell vergibt. Und zuletzt: Eine „Schlüsselrolle Deutschlands“ liegt dabei eher weniger in der komplizierten Lösung des Ukrainekonflikts als darin, einer weiteren Erosion im westlichen Bündnis entgegenzuwirken.
Kersten Lahl
Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. (seit 2013)
Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2008 – 2011)