Zum bevorstehenden Teffen am 11. und 12. Juli hat der litauische Präsident Gitanas Nauseda in die Hauptstadt Vilnius eingeladen. Nach der Aufnahme Finnlands in das Bündnis werden erstmals 31 Nationen am NATO-Tisch sitzen. Eigentlich sollten es schon 32 sein, denn für Schweden war ein Platz vorgesehen. Das hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aber bisher mit seinem Veto verhindert. Aus dem Beobachterstatus soll ein Bündnisbeitritt Schwedens werden. Werfen wir wegen der Schnelllebigkeit der politischen Handlungsabläufe der letzten Jahre einen konzentrierten Blick in die Vergangenheit der größten sicherheitspolitischen Allianz.
Vom Brüsseler-Pakt zur North Atlantic Treaty Organization (NATO)
Nach Kriegsende 1945 sind die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) die Schwergewichte in der zweigeteilten Welt. In Europa schließen Großbritannien und Frankreich am 4. März 1947 den Vertrag von Dünkirchen. Es ist ein Sicherheitspakt gegen Deutschland. Befürchtungen, dass Deutschland wieder eine Gefahr wird, sind nicht aus der Welt. Ein gutes Jahr später, am 17. März 1948, erweitern die beiden Vertragspartner und die Niederlande, Belgien sowie Luxemburg im Brüsseler Pakt ihre gemeinsame Verteidigungsabsicht im Falle eines Krieges. Angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die kommunistische Sowjetunion wird der Brüsseler Pakt am 4. April 1949 zur Nordatlantischen Allianz erweitert. Die Unterzeichnung findet in Washington statt. Der NATO gehören zunächst die Vertragspartner des Brüsseler Paktes an. Hinzu kommen Dänemark, Island, Italien, Norwegen, Portugal und die beiden außereuropäischen Staaten USA und Kanada. Diese zwölf Gründungsmitglieder gehören der Allianz bis heute an. Die vertragschließenden Staaten erklären ihr gemeinsames Interesse an der Erhaltung des Friedens und der Verteidigung der Freiheit durch politische Solidarität und militärische Verteidigung bei feindlichen Aggressionen. In den nächsten Jahren gerät auch die Südostflanke des Verteidigungsbündnisses stärker in den kommunistischen Einfluss. Das führt dazu, dass Griechenland und die Türkei am 18. Februar 1952 als 13. und 14. Mitgliedstaat in die NATO aufgenommen werden
Die Bundesrepublik Deutschland wird 15. Mitglied der Allianz
Am 8. Mai 1949 wird die Bundesrepublik gegründet und 1954 in die Westeuropäische Union (WEU) aufgenommen. Die WEU entsteht nach dem Scheitern der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Am 30. August 1954 lehnt Frankreich die EVG ab. Die Forderung eines deutschen Verteidigungsbeitrages, besonders durch die USA, muss also anders gelöst werden. Die Mitgliedschaft in der NATO bietet sich an. Am 23. Oktober 1954 wird diese vollzogen und mit dem Erlangen der Souveränität am 5. Mai 1955 in vollem Umfang wirksam. Die Bundesrepublik hat jedoch noch keine Soldaten, es existierte nur das sogenannte „Amt Blank“, der Vorläufer des Bundesministeriums für [!] Verteidigung. Der Aufbau der Streitkräfte, die später den Namen Bundeswehr bekommen, beginnt mit der Ernennung der ersten 101 Soldaten, ehemalige Angehörige der Wehrmacht, am 12. November 1955 in der Ermekeil-Kaserne in Bonn. Der nächste Aufbauschritt der neuen Streitkräfte ist die Einberufung von rund 1000 Freiwilligen mit und ohne Vordienstzeiten am 2. Januar 1956. Sie treten ihren Dienst in Andernach fürs Heer, in Nörvenich für die Luftwaffe und in Wilhelmshaven für die Marine, an. Mit der Übernahme von rund 10.000 Angehörigen des Bundesgrenzschutzes am 1. Juli 1956, weiteren Freiwilligen im Laufe des Jahres und der Einberufung der ersten Wehrpflichtigen des Geburtsjahrgangs ab Juli 1937 zum 1. April 1957 ist der Grundstock für drei Heeresdivisionen gelegt. Die Aufstellung der Bundeswehr steht unter erheblichem Zeitdruck der Allianz. Gründe dafür sind die Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch sowjetische Truppen im Oktober 1956, die fortschreitende Militarisierung in der Sowjetunion sowie in der DDR.
Deutschland stellte mit Manfred Wörner den NATO-Generalsekretär
Am 3. Juli 1957 stellt Generalinspekteur Adolf Heusinger drei Heeresdivisionen und zwei Korpsstäbe der NATO zur Verfügung. Der Generalinspekteur wird 1961 zum Vorsitzenden des höchsten militärischen Gremiums der NATO, dem Militärausschuss, berufen. Weitere Generalinspekteure auf diesem Posten sind die Generale: Johannes Steinhoff (1971 bis 1974), Wolfgang Altenburg (1986-1989), Klaus Naumann (1996-1999) und Harald Kujat /2002-2005). Als bisher einziger deutscher Politiker wird der seit Oktober 1982 amtierende Verteidigungsminister Manfred Wörner in das höchste politische Amt der Allianz gewählt, das er am 1. Juli antritt. Er verstirbt mit 59 Jahren am 13. August 1994 in Brüssel. Die Bundeswehr stiftet zur Erinnerung an ihn die „Manfred-Wörner-Medaille“. Am 6. November 2019 wird der seit 2014 amtierende Generalsekretär des Bündnisses Jens Stoltenberg durch Verteidigungsministerin Annegret-Kramp-Karrenbauer mit dieser Auszeichnung geehrt. Die Ministerin bezeichnet dabei den ehemaligen norwegischen Ministerpräsidenten als einen Brückenbauer zwischen den USA und Europa.
Das kollektive Verteidigungsbündnis umfasst jetzt 31 Staaten
Es dauert fast 30 Jahre bis im NATO-Hauptquartier ein neuer Fahnenmast aufgestellt werden muss. Am 30. August 1982 wird daran Spaniens Flagge als 16. Mitglied gehisst. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den Unabhängigkeitserklärungen zahlreicher ehemaliger Ostblockstaaten suchen sie Schutz im Bündnis. Dessen Zweck ist es, mit politischen und militärischen Mitteln die Freiheit und Sicherheit ihrer Mitglieder zu garantieren. Die kollektive Sicherheit ist im Vertragsartikel 5 festgelegt. Bisher wurde der Bündnisfall einmal, nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 in den USA, ausgerufen. Als erste werden am 12. März 1999 Polen (17. Mitglied), Tschechien (18) und Ungarn (19) aufgenommen. Am 29. März 2004 folgen dann Bulgarien (20), Estland (21), Lettland (22), Litauen (23), Rumänien (24), Slowakei (25) und Slowenien (26). In der nächsten Erweiterungsrund am 1. April 2009 kommen Albanien (27) und Kroatien (28) hinzu. Montenegro (29) folgt am 5. Juni 2017 und, nach Beendigung eines langen Streits um den Ländernamen, am 27. März 2020 Nordmazedonien. Auf den Angriffskrieg Russlands am 24. Februar 2022 folgen Beitrittsanträge von Finnland und Schweden. Bei Finnland sind sich alle Mitglieder einig und der Antrag wird ratifiziert. Seit dem 4. April 2023 ist das ehemalige neutrale Finnland nun das 31. Bündnismitglied. Mit seiner Grenze von über 1300 Kilometern hat es die längste Landverbindung zu Russland.
NATO-Gipfel: Treffen des höchsten Entscheidungsgremiums
In Vilnius geht es um die Bilanz und die zukünftige strategische Ausrichtung der Allianz. Seit der russischen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 fanden folgende Gipfel statt: Am 4./5. September in Newport und Cardiff (Wales), am 8./9. Juli 2016 in Warschau, am 25. Mai 2017 und am 11./12. Juli 2018 jeweils in Brüssel. Am 3./4. Dezember 2019 ist Großbritannien in Watford Gastgeber. Am 11. Juni 2021 trifft man sich wieder in Brüssel. Einen Tag nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gibt es am 25. Februar 2022 ein virtuelles Gipfeltreffen. Am 24. März sieht man sich im NATO-Hauptquartier und vom 28.-30. Juni in Madrid.
Seit Oktober 2014 ist Jens Stoltenberg Generalsekretär. Als ehemaliger Premierminister Norwegens und UN-Sondergesandter ist er ein starker Befürworter globaler und transatlantischer Zusammenarbeit. Normalerweise beträgt die Amtszeit fünf Jahre. 2017 und 2019 wurde sie um je zwei Jahre verlängert und in Madrid noch einmal um ein Jahr, bis 30. September 2023. In seine Amtszeit fallen strategische Entscheidungen, wie die Verstärkung der Ostflanke. Die Zusage von Verteidigungsminister Boris Pistorius am 27. Juni 2023 „eine robuste Brigade in Litauen zu stationieren“, soll ihn überrascht haben, er wird es aber gerne gehört haben. Über einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wird schon spekuliert. Eine Frau war noch nie Generalsekretärin. Die Mitglieder an der NATO-Ostgrenze würden gerne jemand aus ihren Ländern in Brüssel sehen. Ob in den nächsten Tagen eine Entscheidung fällt, wird sich zeigen. Letztlich könnte es aber auch eine weitere Verlängerung für Stoltenberg hinauslaufen.
Das Bündnis ist weder „Hirntod“ noch „Obsolet“
2019 hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron das Nordatlantische Bündnis als „Hirntod“ bezeichnet. Damals treten Befürchtungen auf, dass Frankreich die militärische Integration beenden könnte, wie schon einmal. Mitte der sechziger Jahre war das unter Charles de Gaulle der Fall. Das führt 1966 zur Verlegung des politischen und militärischen Hauptquartiers nach Belgien. Auch der Militärausschuss zieht damals von Washington nach Brüssel, so dass die politische und die militärische Führung seitdem an einem Ort sind. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat Marcons Bemerkungen über die NATO als „Beispiel einer kranken Ideologie bezeichnet. Schon vorher, im Mai 2017, hat der amerikanische Präsident Donald Trump den NATO-Verbündeten die Leviten gelesen. „23 der 28 Staaten zahlen nicht, was sie für die Verteidigung bezahlen müssten. Das ist nicht fair gegenüber dem Volk und den Steuerzahlern in den USA“, sagt er in Brüssel. Die Ära Trump ist vorbei, Joe Biden ist diplomatischer. Am Ziel, mindestens Zweiprozent der Wirtschaftsleistung für die Sicherheit bereitstellen, rüttelt er aber auch nicht.
In Vilnius muss das Bündnis gestärkt werden
Das Gipfel-Treffen in Vilnius wird auch außerhalb der NATO aufmerksam beobachtet werden, da Auswirkungen der Entscheidungen nicht nur die Mitgliedsstaaten betreffen. Der stellvertretende Beigeordnete Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung, der deutsche Generalmajor Jörg See, meint: „Vilnius wird ein besonderer Gipfel“. Welche Gründe führen zu seiner Ansicht? Er findet während eines Krieges statt und damit sind Fortsetzung und Steigerung der Ukraine-Unterstützung zu beschließen. Diese befindet sich im 17. Kriegsmonat, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Forderung des französischen Präsidenten Macron, der Ukraine „alle Perspektiven [zu] geben auf die sie Anspruch hat“, gemeint ist der NATO-Beitritt, wird sicher zu kontroversen Diskussionen führen. Es waren Franzosen und Deutsche, die 2008 beim Gipfel in Budapest einen Beitritt abgelehnt haben. Die NATO muss dringend ihre Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten verstärken und die Strukturen ihrer zukünftigen Streitkräfte festlegen. Ungarn und die Türkei müssen überzeugt werden ihre Vorbehalte gegen Schwedens Beitritt aufzugeben. Grundsätzlich muss die gesamte Sicherheitsordnung Europas neu überdacht werden. Im strategischen Konzept der NATO steht der Satz. „der europäische Raum befindet sich nicht im Frieden“. Mit dieser Realität ist in Vilnius umzugehen. Die Verantwortung dafür liegt auf dem Schultern der Staats- und Regierungschef der 31 NATO-Mitglieder. Erinnert sei an das NATO-Motto: „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“.