Nein, die Türkei war noch nie ein leichter Partner im nordatlantischen Bündnis. Die Frage, ob wirklich ein tiefer Konsens über grundlegende gemeinsame Werte besteht, blieb immer offen oder wurde besser gar nicht erst gestellt. Denn ein Fakt überstrahlte alles: Das Wissen um die immense geostrategische Bedeutung dieses Staates als eine Art Brücke zwischen Ost und West, zwischen dem Schwarzen Meer und der Mittelmeerregion, zwischen Europa und Asien, zwischen dem Islam und dem Christentum, zwischen Rohstofflieferern und Industriestaaten. Das galt im Kalten Krieg, und das gilt – wenngleich unter teilweise anderen Vorzeichen – auch heute. Darauf weist allein schon die brandaktuelle Herausforderung hin, Migrations- und Flüchtlingsbewegungen großen Stils in Richtung Europa zu bewältigen. Im Ergebnis hat all das bisher immer bedeutet: Beidseitige vitale Interessen wirkten als feste Klammer und übertünchten so manche Irritationen humanitärer, sozialer, gesellschaftlicher oder religiöser Art.
Dennoch gab es in den vergangenen sieben Jahrzehnten immer wieder Phasen mit schwersten Belastungen für das gegenseitige Verständnis. Derzeit befinden wir uns wieder in einer extrem kritischen Lage. Der Einmarsch türkischer Truppen in Syrien ist weder mit dem Völkerrecht vereinbar, noch entspricht er unseren sicherheitspolitischen Interessen oder gar humanitären Prinzipien. Die Folgen für die ganze Region und weit darüber hinaus sind völlig unklar. Das zu erwartende Ausmaß alarmiert jedenfalls. Deutlich scheint nur: Die Hauptverlierer sind die Kurden, die auf geradezu tragische Weise immer wieder zwischen den regionalen und überregionalen Kräften zerrieben werden – und dies, obwohl sie im Kampf gegen den islamistischen Terror beste Dienste erwiesen haben. Ob die Tatsache, dass und wie sie nun wieder einmal im Stich gelassen werden, auf lange Sicht dem Vertrauen in die westliche Welt dient, darf man durchaus bezweifeln.
Das wirft nun die Frage auf: Wie gehen wir Europäer mit dieser Situation um? Zwei Denkschulen bilden gegenläufige Pole der aktuellen Diskussion:
- Zum einen die sog. Realpolitiker, die auf pragmatischem, eher beschwichtigend angelegten Weg unbedingt vermeiden möchten (und es auch zu schaffen glauben), dass sich die Türkei noch weiter vom Westen entfremdet. Sie verweisen auf unsere realen Interessen an einer stabilen Partnerschaft, dies etwa unter Hinweis auf russische Ambitionen als heimlicher Nutznießer eines westlich-türkischen Zerwürfnisses oder auch mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik. Daher wird der Türkei auch ein gewisses Sicherheitsinteresse an der syrischen Grenze zugestanden, das zwar nicht die aktuellen Militäroperationen rechtfertige, aber zumindest nachvollziehbar sei. Die Ratio also: Wenn wir einen Einfluss auf die Politik Ankaras bewahren wollen, dann vielleicht mittels vorsichtig dosierter Kritik, aber nicht allzu einschneidender Maßnahmen.
- Zum anderen die sog. Moralpolitiker, die das türkische Vorgehen nicht nur verbal verurteilen, sondern mit wirklich schmerzhaften Sanktionen belegen möchten. Auch sie betonen Argumente, die über ihren moralischen Anspruch hinaus durchaus pragmatisch klingen: So destabilisiere Erdogan mit seiner Politik die ganze Region erneut, biete dem IS neue Chancen für ein Wiedererstarken, öffne neben einer humanitären Katastrophe auch einer neuen Flüchtlingswelle Tür und Tor – und riskiere darüber hinaus eine militärische Auseinandersetzung mit syrischen oder russischen Truppen, was gar den Bündnisfall auslösen könne. Der eine oder andere Kommentator stellt gar in Frage, ob die Türkei als Nato-Mitglied noch tragbar ist. Kurzum: Eine hinnehmbare Grenze der türkischen Außenpolitik sei erreicht.
Die deutsche Politik und die ihrer europäischen Verbündeten steht damit vor schweren Entscheidungen. Es ist quasi die Wahl zwischen Pest und Cholera. Erste Signale, die über rein verbale Wertungen weit hinausgehen, sind gegeben – etwa mit schmerzhaften Restriktionen bei Waffenlieferungen, obwohl doch die Türkei als Nato-Partner eigentlich eine Sonderrolle in unserer Rüstungsexportpolitik genießt. Das kommt schon einer Relativierung des Zusammenhalts in einem Verteidigungsbündnis ziemlich nahe.
Aber reicht das? Lässt sich Erdogan, der innertürkisch mit seinem Vorgehen geradezu eine nationale Begeisterungswelle ausgelöst hat, davon wirklich irritieren? Könnte er sich innenpolitisch überhaupt noch ein Zurückweichen leisten, selbst wenn er dies wollte? Ist sein kaum verdeckter Hinweis ernst gemeint, er könne ohne weiteres Flüchtlingsströme nach Europa lenken? Tendiert er nicht ohnehin bedenklich in Richtung Russland, nicht zuletzt was die militärische Ausrüstung betrifft, und versucht Trump gegen Putin auszuspielen? Zusammengefasst: Ist die Türkei für uns bereits verloren, oder gibt es noch eine Umkehr der jüngeren Entwicklung? Oder noch allgemeiner gefragt: Sind Prinzipientreue, Recht und Moral noch Größen in der internationalen Politik, an denen zu orientieren sich lohnt? Und schließlich: Was bedeuten all diese jüngsten Entwicklungen rund um den Nahen Osten für eine Welt, die seit Langem und zunehmend verzweifelt nach einer gewissen Ordnung sucht?
Das türkische Dilemma ist (leider) geeignet, auch hier an dieser Stelle unterschiedliche Argumente auszutauschen. Dabei darf dann auch eine harte Prüfung der tatsächlichen bzw. potenziellen Rolle Europas vor seiner südlichen und südöstlichen Haustür nicht ausgeklammert bleiben.
Kommentare (2)
Diese Studie verstärkt die Gretchenfrage zwischen Real- und Moralpolitik: Wie gehen wir in Deutschland, der EU und der Nato mit einem Partner um, der offenkundig das im Völkerrecht verankerte Gewaltverbot verletzt? Was ist kurz- oder auch langfristig wichtiger: Reale eigene Interessen zu verfolgen (also notfalls zähneknirschend die Augen zudrücken) oder konsequent auf den Schutz der internationalen rechtlichen und ethischen Grundsätze zu dringen (also etwa Sanktionen)? Oder gibt es auch etwas Erfolgversprechendes und zugleich glaubwürdig Vertretbares zwischen diesen beiden Polen?
WIR WISSEN AUCH: Diese Bereicherung, die wir zu Hause haben, wäre im AfD Deutschland undenkbar.