Von Kersten Lahl
Das wichtigste Ergebnis des jüngsten Nato-Gipfels in London: Ein breites Zerwürfnis fand nicht statt. Alle haben offenbar den Ernst der Lage erkannt und sich auf betonte Harmonie geeinigt. Das Bündnis lebt also trotz so mancher voreiliger Abgesänge weiter. Dennoch bleibt klar: Der Patient ist alles andere als kerngesund. Er bedarf vielmehr dringend einer Erfrischungskur, um auch künftig im oft garstigen Alltag bestehen zu können und eine beunruhigende Orientierungslosigkeit zu überwinden. Burnout oder gar Kollaps sind zwar erst mal vom Tisch, aber nach wie vor nicht völlig ausgeschlossen.
Da soll jetzt das helfen, was man als Vorstufe der Strategieentwicklung begreifen kann: Ein tiefgreifender Reflexionsprozess. In der militärischen Truppenführung würde man von einer neuen Beurteilung der Lage sprechen. Darunter versteht man – wenn sich eine Lage „grundlegend geändert“ hat – vor allem folgende Schritte: Eine Auswertung des Auftrags (hier: das aktuelle Grundverständnis der Nato), eine Feindlagebeurteilung (hier: eine sicherheitspolitische Risikoanalyse mit Blick nach vorn), eine Beurteilung der eigenen Lage (hier: eine aktuelle und mittelfristig prognostizierbare Fähigkeitsanalyse der Nato und aller ihrer Mitglieder), die Entwicklung und Abwägung von Möglichkeiten des Handelns (hier: strategische Optionen der Nato mit Vor- und Nachteilen) und schließlich der Entschluss (hier: eine neue Strategie als Endprodukt).
Genau diese Schritte im Sinne eines breiten Reflexionsprozesses sind es, vor denen das Bündnis jetzt nicht zurückschrecken darf. Auf den groben Gipfelkonsens müssen also entsprechende Taten folgen. Und damit sie nicht ins Leere führen, sind zwei Grundsätze von entscheidender Bedeutung: Erstens die Bereitschaft zu konstruktiver, ehrlicher Selbstkritik, und zweitens der Willen, unvoreingenommen alle auf dem Tisch liegenden Argumente zu respektieren – und dies nicht nur durch die Brille partikularer Einzelinteressen.
In diesem Sinne ist eine breite Diskussion über die engeren Expertenzirkel hinaus heute vielleicht wichtiger denn je. Also auch hier an dieser Stelle mit der ganz kurzen und zugleich elementaren Frage an uns Deutsche: Was ist uns die Nato künftig wert und was müssen wir dazu entsprechend leisten? Oder anders gefragt: Hat sie eine Zukunft, für die zu engagieren sich (noch) lohnt?