Das altbekannte Narrativ macht wieder die Runde: In Krisen wird fast reflexartig der Europäischen Union vorgeworfen, sie versage, besitze keinen Mehrwert und sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Ja mehr noch, sie lasse ihre in Not geratenen Mitglieder im Stich. Es ist dann also die hohe Zeit der Skeptiker. Umso lauter ruft man dann nach dem Nationalstaat – den man vorher freilich davor bewahrt hat, zur Krisenbeherrschung erforderliche Mittel und Kompetenzen an die Gemeinschaft abzugeben. Das erinnert mitunter schon an das, was man „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ nennen könnte.
In der aktuellen Corona-Krise ist das nicht anders. Denn auch in der engeren Gesundheitsvorsorge kann auf europäischer Ebene nichts oder nur vergleichsweise wenig entschieden werden. Das ist vielmehr – aus keineswegs falschen Gründen – eine nationale, regionale oder lokale Aufgabe, je nach Verfassung der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU.
Dennoch ist die EU keineswegs machtlos, wenn es um die Krisenbewältigung im weiteren Sinne geht. Sie kann – wenn das alle wollen – einen Rahmen schaffen, der eine gegenseitige Unterstützung aller Mitgliedsstaaten schafft und erleichtert. Das gilt vor allem mit Blick auf eines der traditionellen Kernanliegen der EU, das auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zum erhofften Nutzen aller zielt. Wohl selten zuvor war das so wichtig wie jetzt. Und nur selten zuvor wird so heftig darüber gestritten, was das eigentlich im Kern bedeutet.
In dieser unserer fünften Diskussionsrunde zur Corona-Krise soll analysiert und debattiert werden, ob die Europäische Union in den derzeit so schwierigen Zeiten den hohen Erwartungen gerecht wird und gerecht werden kann. Mögliche Stichworte liegen auf der Hand: Etwa die gefühlte Solidarität der europäischen Partner untereinander, die unmittelbaren Folgen des Brexit in der aktuellen Krise, mit den EU-Richtlinien unvereinbare rechtstaatliche Turbulenzen in einzelnen Mitgliedsstaaten, Nutzen und Risiken offener oder geschlossener Grenzen innerhalb des Schengen-Raums, die Zukunft der erstrebten Freizügigkeit von Menschen und Gütern, bis hin zur heftig umstrittenen Frage von Euro-Bonds u.v.a.m..
Kurz gefasst: Wohin driften die EU und die europäische Idee im Zuge der Corona-Krise und danach? Wächst Europa in der Not zusammen, oder fällt es eher auseinander? Steht es also tatsächlich in einer Überlebensfrage, wie renommierte Außenpolitiker wie Wolfgang Ischinger es formulieren? Droht es de facto obsolet und damit im globalen Kontext irrelevant zu werden, oder wacht es auf und besinnt sich auf die Tatsache, dass man nur gemeinsam stark sein kann? Was bedeuten beide Varianten in sicherheitspolitischer Sicht, dies mit Blick auf rivalisierende Mächte und erwartbare Risiken auch über Europa hinaus? Und vor allem: Was ist zu tun und wie ist das Getane den Menschen gegenüber zu kommunizieren, um das Eintreten noch schlimmerer Szenarien zu verhindern?
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